Zum Abschluss unserer kleinen Serie ‘Was hat ‘Lucho’ vor?’ behandeln wir dieses Mal die wahrscheinlich größte Unbekannte beim FC Barcelona, die Position des Torhüters. Nach dem Abgang aller drei Torhüter des A-Kaders gab es für die Blaugrana heftigen Nachholbedarf. Marc-André ter Stegen, Claudio Bravo und Jordi Masip waren schlussendlich die Lösungen des katalanischen Trainerteams. Die brennende Frage für viele Culés lautet nun: Welcher dieser drei Neuzugänge setzt sich im beinharten Kampf um die begehrte Stammposition unter Trainer Enrique am Ende durch?
Ter Stegen, Masip oder Bravo – Ja, wer denn nun?
War es in den vergangenen Jahren immer Víctor Valdés, der stets der unumstrittene Mann auf dieser Position beim Trainergespann und den Fans war, so ist die aktuelle Sachlage völlig unklar. Sowohl Marc-André ter Stegen als auch Claudio Bravo wurden für eine Ablösesumme von zwölf Millionen Euro zum katalanischen Star-Ensemble transferiert. Stirnrunzelnd nahmen viele Culés diese Verpflichtungen hin, verständlich. Eine Summe von zwölf Millionen ist für einen Torhüter, der sich zwangsläufig mit einem Platz auf der Bank zufrieden geben muss, wahrlich kein Schnäppchen. Selbst eine Teilung der Spiele in Liga plus Champions League sowie der Copa del Rey, wie es die letzen Jahre über praktiziert wurde, ist in Anbetracht der Summe für einen Back-Up dieser Klasse immer noch zu wenig Spielzeit, beläuft sich doch die Anzahl der Partien im spanischen Cup-Wettbewerb für Erstligamannschaften auf neun Spiele. Zum Vergleich, bei einem desaströsen Ablauf für die Katalanen in der Champions League, sprich einem sofortigen Ausscheiden in der Gruppenphase, beträgt die Anzahl der Matches zuzüglich der Ligapartien immer noch 44 an der Zahl. Proportional gesehen also eine enorme Differenz hinsichtlich der Spielpraxis. Jordi Masip ist in diesem Gedankengang sogar noch außen vor gelassen worden, wenngleich er doch auch ansprechende Qualitäten mit sich bringt. ‘Qualitäten’ ist auch das Stichwort für unsere nächste Thematik. Rein vom statistischen Standpunkt aus gesehen sind die Charakteristiken der einzelnen Spielertypen doch sehr different. Schauen wir uns einmal die drei Torhüter kurz im Einzelnen an:
Eines der wichtigsten Kriterien für das katalanische Ballbesitzsystem ist zweifellos die Passanzahl und -quote. Spitzenreiter in dieser Statistik ist Jordi Masip mit 1549 Ballabgaben. Prozentual gesehen sind davon 79 %, umgerechnet 1224 Bälle, beim Mann angekommen. Dahinter rangieren Marc-André ter Stegen mit 1331 abgegebenen Pässen und einer Passquote von 73 Prozent (971) sowie Claudio Bravo mit einer Anzahl von 709 Pässen, von denen 418 an seinen Mitspieler angekommen sind (59%). Interessant ist die Summe der lang gespielten Pässe. Ter Stegen liegt hierbei klar an der Spitze (643/48 %) vor Masip (582/38 %) und Bravo (473/40 %).
Torwartkette gegen offensives Pressing
Es lässt sich mittlerweile nicht mehr leugnen, dass das Pressing im heutigen ‘modernen’ Fußball eine eminent wichtige Rolle spielt. Besonders Barça bekam diese Tatsache in den letzten Jahren in einer nie da gewesenen Manier zu spüren. Auf das Champions-League-Halbfinal-Debakel 2012 gegen den FC Bayern München folgte in der letzten Saison das Ausscheiden gegen Atlético Madrid im Rückspiel, wodurch eine sieben Jahre andauernde Halbfinal-Serie ihr bitteres Ende nahm. In beiden Aufeinandertreffen, sowohl gegen die Bayern als auch gegen Atlético, schaffte man es nicht, einen geregelten Spielaufbau zu erzeugen. Schon in unserer ersten Ausgabe haben wir auf die Potenziale einer Doppelsechs aufmerksam gemacht, die diese enorme Abhängigkeit von Mittelfeldgenie Sergio Busquets durchaus dezimieren könnte. Eine sogenannte Torwartkette, zusammen mit der Doppelsechs, wäre eine taktische Maßnahme, um den Spielaufbau der Katalanen auf verschiedene Schultern zu verteilen.
Die Grafik zeigt eine reduziert dargestellte Szene, die unter Umständen in einem Spiel auftauchen könnte. Der Gegner steht tief in der Hälfte von Barça und verteidigt dabei sehr mannorientiert. Beide Sechser sollen mit Manndeckungen aus dem Spiel genommen werden. Zwei Flügelspieler befinden sich in einer gewissen Entfernung zum linken und rechten Innenverteidiger, um gegebenenfalls Zugriff und Druck auf den Gegner zu bekommen beziehungsweise auszuüben. Der Torhüter ist, wie üblich im Spielaufbau, im Ballbesitz. Nun entschließt sich ein Bewacher der defensiven Mittelfeldspieler für ein Anlaufen auf den Keeper. Der letzte Mann muss jetzt schnell handeln, drei Entscheidungsmöglichkeiten verbleiben ihm: Erstens, ein langer Ball nach vorne zu seinen Offensivakteuren, zweitens, ein Heber über den heranstoßenden Stürmer zum nun freien Sechser oder ein Zuspiel auf den rechten Innenverteidiger. Wir dagegen haben uns für folgendes Szenario entschieden:
Der Torhüter spielt die Kugel zum rechten Innenverteidiger. Postwendend attackiert der gegnerische Außenspieler den ballführenden Gegenspieler, der Torhüter wird situativ vom Stürmer in den Deckungsschatten genommen. Unser Sechser antizipiert die Situation richtig und lässt sich nach rechts abkippen, um als Anspielstation zu fungieren. Der Abwehrspieler spielt den Ball sofort zu seinem freien Kollegen, was neuerlich eine Reaktion des Gegners hervorruft. Wie üblich beim Offensivpressing, rückt ein weiterer Spieler aus seiner Position heraus, um den Druck auf den Ballführenden aufrecht zu erhalten. Hier kommt nun wieder der Torhüter ins Spiel. Er löst sich geschickt aus dem Deckungsschatten seines Gegenspielers nach vorne und bietet sich wiederum als Anspielstation an. Der Sechser erkennt die Situation und passt seinem Kollegen das Spielgerät. Jetzt ergibt sich die Gelegenheit für einen langen Ball nach vorne, denn durch das Lösen der Pressingwelle entstünde eine 6 gegen 5 Situation für die Offensivakteure der Blaugrana. Übrigens, beide Außenverteidiger sind in dieser Szene sehr weit vorne postiert. Beides, die Doppelsechs und die stärkere Einbindung des Torhüters, geben dem Defensivgerüst die nötige Stabilität, was das Interesse an Cuardado, einem weiterem offensiv orientierten Außenverteidiger, erklären könnte. Víctor Valdés nutzte dieses Mittel bereits in seiner Karriere, schlug den Ball allerdings sofort in bestimmte Zonen nach vorne. Mit halbhohen Pässen zu Messi oder Iniesta, ihres Zeichens Meister im Bereich der Ballannahme, könnte man diese Vorgehensweise sogar noch verfeinern.
Es erklärt sich von selbst, dass diese Szene allein nicht Enriques Absichten in puncto Torwarteinbindung vollständig veranschaulichen kann, dennoch ist es ein hervorragendes Paradigma für die prinzipielle Nutzung einer Torwartkette. Der Gegner muss aufgrund des Offensivpressings tief in die gegnerische Spielfeldhälfte vorstoßen und seine Kompaktheit über knapp 50 Meter, sprich über die gesamte Hälfte des Gegners, ausbreiten. Zusätzlich verlagert sich die zentrale Anspielstation im Aufbauspiel vom Sechser zum Torhüter und fordert den Gegner nun auf, einen längeren Laufweg einzulegen. Der Torhüter besitzt nun die meiste Zeit zum Reagieren und ist selten, besser gesagt nie, mit dem Rücken zum Gegner gewandt. Verstärkt wird diese Annahme durch die Verpflichtung von ter Stegen und die Beförderung Masips. Beide besitzen hervorragende Passstatistiken, sowohl bei kurzen als auch langen Zuspielen und waren zentrale Säulen im Ballbesitzsystem ihrer ehemaligen Mannschaften. Hier ein paar Fakten: ter Stegen beziehungsweise Masip spielten pro Partie durchschnittlich 39 respektive 46 Pässe. Um die Ausmaße dieser Statistik zu verdeutlichen: Víctor Valdés kam in seiner letzten Saison durchschnittlich auf ganze 15 Zuspiele in jedem Match. Ein derart passbetontes Spiel würde demnach beiden zugutekommen.
Und der Sieger ist…
Am Ende schließen wir nun den Kreis, und zwar mit jenem Impuls, mit dem der Artikel begonnen hat. Wer wird denn nun die Nummer Eins? Ohne in Subjektivität zu verfallen, lässt sich zweifellos sagen, dass Marc-André ter Stegen aktuell der heißeste Anwärter auf diesen Posten ist. Sein Drang nach einer spielerischen Lösung und die bisherige Einbindung im passbetonten System zu Gladbacher-Zeiten machen ihm zum kleinen Favoriten. Anpassungsschwierigkeiten auf dieser Rolle wird es somit sicherlich nicht geben. Allerdings ist die Konkurrenz keineswegs chancenlos, ganz im Gegenteil. Wohl zur Überraschung vieler findet sich in Jordi Masip jemand, der ter Stegen in vielen Bereichen die Stirn bietet und sogar leicht überlegen ist, wenngleich ihm seine fehlende Erfahrung auf hohem Niveau zum Verhängnis werden könnte. Die Liga Adelante lässt sich bei allem Respekt nicht mit der Bundesliga geschweige denn mit der Primera División vergleichen.
Lachender Dritter könnte am Ende aber auch Chiles Teamtorhüter Claudio Bravo sein. Am Ende sind Passstatistiken lediglich Zahlen auf einem Stück wertlosen Papier und sagen nichts zum eigentlichen Spielertyp. Des Weiteren bringt er mit seiner Erfahrung eine weitere sehr essenzielle Komponente ins Spiel, die durchaus seine zwölf Millionen wert sein kann, sowohl auf der Bank aber vielmehr auch im Spiel. Nun, wir von Barçawelt können am Ende aber eines mit Sicherheit konstatieren. Einen Sieger bringt dieser harte Konkurrenzkampf schon jetzt hervor, nämlich den FC Barcelona und vor allem seine Fans. Der harte Kampf wird jeden zu seinen Höchstleistungen anspornen; wenn sich ein jeder Culé wieder in Erinnerung ruft, wie im Verein mit dem Thema leistungsgerechte Aufstellung umgegangen wurde, dann ist das eine sehr gute Ausgangssituation für die neue Saison.
Das war es von unserer kleinen Serie ‘Was hat ‘Lucho’ vor?’. Das Barçawelt-Team hofft, dass euch unsere Instruktionen und Ideen gefallen, zum Nachdenken angespornt und Vorfreude auf die neue Saison gebracht haben. Falls auch ihr über diese spannende Thematik etwas zu sagen habt, dann fühlt euch frei, eure Meinung in den Kommentaren und vor allem im Taktik-Thema im Forum kundzutun.
(alle Angaben: whoscored.com, lfp.es)