Bildquelle: fcbarcelona.com
Als Alexis Sánchez im Sommer 2011 zum FC Barcelona wechselte, waren sich alle einig, dass die Katalanen einen tollen Coup gelandet haben. Sánchez, damals gerade mal 22 Jahre alt, wurde von der Gazetto dello Sport zum besten Spieler der Serie A gekürt und galt als das Talent schlechthin. Es war unschwer zu erkennen, was Pep Guardiola dazu bewogen hat, den Angreifer in die eigenen Reihen einzugliedern – Sánchez war schnell, trickreich und torgefährlich, ein unnachgiebiger Kämpfer, der sich für die Mannschaft aufopfern konnte. In dieser Saison allerdings war es nicht mehr ganz so leicht, sich für Sánchez zu begeistern. Man musste hinter seine offene Erscheinung blicken, um festzustellen, dass sich Sánchez seit dem Tag seiner Ankunft nicht etwa verschlechtert, sondern im Gegenteil seine herausragenden Attribute weiter ausgebaut hat. Ihm ist es so ergangen wie den anderen Stürmern im System des FC Barcelona. Sie wurden Opfer desselben und ihre Individualität und ihr Selbstbewusstsein litten unter der oberflächlichen Kritik von Medien und Fans.
Problemexposition
Ohne Rücksicht auf einen unter Umständen gegebenen taktischen Zusammenhang wurden die Tage gezählt, die seit dem letzten Torerfolg von Pedro und Sánchez zurücklagen, und man kam vielerorts zu dem Schluss, dass die vermeintlich durchschnittlichen Leistungen beider Spieler für den FC Barcelona nicht mehr tragbar seien. Neymar, Agüero oder Falcao sollten schnellstmöglich herbeieilen und dieser Zumutung ein Ende bereiten. Der Druck auf die Angreifer nahm stetig zu und hat gewiss seinen Beitrag zur Verunsicherung beider Spieler beigetragen, denen fortan einfachste Dinge nicht zu glücken vermochten, insbesondere vor dem Tor, das zeitweilig wie verhext erschien.
Nur die wenigsten, erkannten die wahren Hintergründe für die Misere vor dem Tor, sie erkannten, dass die Leistungen der Angreifer weiterhin über jeden Zweifel erhaben waren und sie schlicht nicht mehr im Licht der Aufmerksamkeit ihren Dienst verrichteten. Sie spulten zahlreiche Kilometer ab, gingen keinem Zweikampf aus dem Weg und rieben sich für den mannschaftlichen Erfolg auf, jenseits des gegnerischen Tores und fern jeder wohlverdienten Anerkennung. Sie führten ein Schattendasein und haben dennoch einen erheblichen Teil zum voraussichtlichen Gewinn der Meisterschaft beigetragen.
Nichtsdestotrotz ist es für die Angreifer gewiss nicht leicht, sich gänzlich in den Dienst der Mannschaft zu stellen und festzuhalten, dass die Namens-Rufe im Camp Nou anderen Spielern vorbehalten sind. Stürmer haben immer den Anspruch, Tore zu erzielen, auch in Barcelona, weil sie wissen, dass man ihre Leistung an Toren misst und nicht an der Vollkommenheit ihrer taktischen Ausführung. Für den Trainer mag ein Spieler, der die taktischen Vorgaben erfüllt, mit einer glatten “Eins” belohnt werden, während der Rest der Welt ihn mit einer “Fünf” abstraft. Trotz der Zufriedenheit des Trainers wird dadurch öffentlicher Druck erzeugt, dem sich ein Stürmer gerne entziehen will. Er nagt an dem Selbstbewusstsein und führt dazu, dass auf einmal Selbstverständlichkeiten auf dem Platz schwer fallen.
So oder so ähnlich wird es den Flügelstürmern des FC Barcelona in dieser Saison ergangen sein. Bereits durch ihre Positionierung auf den Flügeln wird deutlich, dass der Weg zum gegnerischen Tor weiter ist als der eines Mittelstürmers. Aus diesem Grund hinkt der Vergleich mit Stürmern, die in dieser Saison im Zentrum zur Tat schreiten durften und häufiger eingenetzt haben, namentlich Messi und Villa. Wir möchten unser Augenmerk aber insbesondere auf die Betrauung der Flügelstürmer mit umfangreichen Defensivaufgaben richten, die in erster Linie für die einschlägige Performance verantwortlich zu sein scheinen. Sowohl links als auch rechts müssen die Flügel zurückarbeiten, um die Außenbahnen zu stabilisieren. Warum werden ihnen diese Verbindlichkeiten zugewiesen? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf das Verhalten von Xavi und Iniesta in der Rückwärtsbewegung einzugehen. Beide Spieler zählen nicht zu den laufstärksten und können ihre Defensive nicht in dem Maße unterstützen wie Mittelfeldspieler anderer Mannschaften. Möglicherweise sollen sie sogar entlastet werden und sich zentraler aufhalten, um bei Ballgewinn den Ball sofort im Zentrum zirkulieren lassen zu können und die Kontrolle an sich zu reißen. Letzteres ist aber nur eine Vermutung. Des Weiteren verfügt der FC Barcelona in Gestalt von Busquets nur über einen zentralen defensiven Mittelfeldspieler, der die Abwehr unterstützt. Busquets antizipiert die Angriffe des Gegners und verlagert zur entsprechenden Seite. Es kommt aber immer wieder vor, dass der defensive Mittelfeldstratege zu spät dran ist und dem Außenverteidiger nicht rechtzeitig zur Hilfe eilen kann. Während viele Mannschaften zwei defensive Mittelfeldspieler besitzen, die sich den Raum vor der Abwehr aufteilen, muss Busquets diesen alleine bearbeiten. Mit geschicktem Kombinationsspiel oder schnellen Seitenverlagerungen kann der Gegner diesen Umstand ausnutzen und durch das Vorschieben seines Außenverteidigers den Flügelstürmer zu massiven Defensivtaten nötigen. Auch die Überladung der Außenbahn kann die Flügel bei Barça zwingen, sich tief fallen zu lassen und auszuhelfen.
Freilich, auch die Flügel anderer Mannschaften müssen defensive Aufgaben verrichten, beispielsweise Ribery und Robben. Gleichwohl fällt auf, dass diese beiden Spieler starke Unterstützung durch ihre Mitspieler erfahren und immer auf dem Sprung sind, einen Konter in die Wege zu leiten. Ihre Positionierung bei gegnerischem Ballbesitz ist höher und so verwundert es nicht, dass sie häufiger brenzlige Situationen heraufbeschwören können. Im Vergleich dazu verpulvern die Barça-Flügel ihre offensiven Reserven in der Defensive und sind nach 60-70 Minuten kräftemäßig am Ende. Der oben genannte psychologische Aspekt ist auch nicht zu verachten, häufigere Erfolgserlebnisse würden den Flügeln gut tun.
Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass in der starken defensiven Einbindung der Flügel ein Fehler seitens Vilanova zu erblicken ist. Diese Entscheidung ist abzuwägen gegen die Vorteile, die mit ihr einhergehen. Wenn die Flügel stark zurückarbeiten, werden andere Spieler, z.B. Xavi, Iniesta, Busquets entlastet und können ihrerseits den Spielaufbau vorantreiben. In dieser Saison mangelte es dem FC Barcelona jedoch häufig an Durchschlagskraft und so stellt sich die Frage, ob es nicht besser wäre, die Flügel wieder mehr ihrer ursprünglichen Funktion zuzuführen und sie mehr stürmen zu lassen. Nachfolgend werden im Lichte dieser Frage bestimmte Möglichkeiten erörtert, wie man die Flügel offensiver agieren lassen kann, ohne die Defensive zu destabilisieren und ohne den Spielaufbau erheblich zu beeinträchtigen.
Lösungsstrategien innerhalb des 4-3-3
1. Befreiung von defensiven Pflichten
Der erste theoretische Ansatz geht dahin, die Flügel ihrer defensiven Pflichten zu entledigen. Dadurch würde man aber eine personelle Unterlegenheit riskieren, die durch Xavi und Iniesta noch weiter verschärft würde. Unter den vorhandenen Gegebenheiten ist also eine totale Entpflichtung der Flügel nicht möglich, insbesondere auch deshalb, weil Lionel Messi nicht zurückarbeitet. Dieser Ansatz ist daher zu Recht zu verwerfen.
2. Versetzter Busquets
Möchte man einem Flügelspieler mehr defensive Freiheiten zugestehen, so kommt man nicht umhin, die Gegebenheiten an die beabsichtigte Änderung anzupassen. Einen defensiv nicht oder kaum präsenten Außenstürmer kann sich eine Mannschaft nur leisten, wenn sie den Raum hinter ihm absichert. Dies kann in einem 4-3-3 z.B. dadurch geschehen, dass Sergio Busquets nicht mehr den gesamten Raum vor der Abwehr absichern muss. Man könnte dem Sechser des FC Barcelona auftragen, sich stärker zur einen Seite, beispielsweise zu der bevorzugten Angriffsseite des Gegners, auf der qualitativ herausragende Spieler lauern, hin zu orientieren. Dem entstehenden Loch auf der gegenüberliegenden Seite könnte dadurch begegnet werden, dass man den Flügel weiter zurückzieht und ihn damit faktisch als Mittelfeldspieler auftreten lässt. Lionel Messi könnte sich in der Folge auf die entsprechende Seite hinaustragen lassen, wenn eine Spielerpräsenz dort erforderlich erscheint. Es ist jedoch problematisch, ob auf diese Weise nicht andere Nachteile entstehen, die die Vorteile aufwiegen. Die verstärkte Asymmetrie erschwert die Bildung von Dreiecken, die für den Spielfluss der Katalanen unabdingbar sind. Manche Offensivspieler würden häufiger in direkte Zweikämpfe verwickelt werden und könnten seltener auf ein kollektives Zusammenwirken bauen. Schließlich sind auch die Nachteile im Gegenpressing zu beachten, die sich aus der veränderten Stellung von Busquets ergeben.
3. Einsatz von laufstarkem Box-to-Box-Spieler mit Befähigung zur Spielgestaltung
Vielleicht aber besteht gar nicht die Notwendigkeit, solch gravierende Veränderungen vorzunehmen, die die Spieler vor neue anspruchsvolle Aufgaben stellt. Womöglich reichen personelle Veränderungen aus, um die Flügel defensiv zu entlasten und ihnen zu neuen Höhenflügen zu verhelfen. Vielfach wurde in den vergangenen Wochen und Monaten die Rolle von Xavi im System des FC Barcelona hinterfragt, der nach vorne hin kaum mehr Impulse zu setzen vermag und defensiv Schwächen vorweist, die einen exzessiven Einsatz der Flügel in der Rückwärtsbewegung erforderlich erscheinen lassen. Die Gesamtschau mit dem Defensivverhalten von Andrés Iniesta bewirkt nicht gerade eine Entspannung der Ausgangslage und regt dazu an, Xavi gedanklich durch einen alternativen Spieler zu ersetzen, der über ähnliche Stärken wie Xavi verfügt, im Vergleich zu diesem aber noch weitergehende Attribute besitzt, die ihn auch für Defensivarbeiten qualifizieren. Angesprochen ist hierbei ein laufstarker Box-to-Box-Spieler, der spielintelligent und technisch stark, gleichsam aber mit einer ausgesprochen guten Physis gesegnet ist und sich im Zweikampf nicht abschütteln lässt – ein Spieler vom Typ eines Gündogan, welcher noch dazu vor dem gegnerischen Strafraum zu anspruchsvollen Spiellösungen neigt.
Mit einem solchen Spieler könnten mehr Lücken geschlossen und die Flügel damit entlastet werden. Mit 33 Jahren kann Xavi naturgemäß nicht mehr die Laufleistungen eines anfang oder mitte 20-jährigen erbringen, und das macht sich nicht erst seit dieser Saison bemerkbar. Fortschritte im Fußball werden heutzutage hauptsächlich über die physische Komponente erzielt, das haben die Vereine erkannt. Ein Schweinsteiger oder Javi Martínez spult in einem Spiel sehr viel Kilometer ab, aber nicht nur die Quantität hat sich verändert. Auch die Antrittsintensität und die Explosivität hat zugenommen und lässt Xavi im direkten Vergleich, obwohl Xavi sicherlich weiterhin ein exzellenter Fußballer ist und wie kaum ein anderer einem Spiel Struktur geben kann, im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen. Der Fußball unterliegt permanenten Änderungen und damit einhergehend ändern sich die Anforderungen an die Spieler. Es ist heutzutage nicht mehr hinreichend, ein feiner Fußballer zu sein und das Spiel zu dirigieren. Spätestens dann, wenn der Ball verloren ist, sind andere Qualitäten gefragt, um im internationalen Vergleich mithalten zu können.
Unter Umständen könnte eine personelle Veränderung im Mittelfeld damit auch den Flügelstürmern zugutekommen.
4. Etablierung eines Mittelstürmers
Einen etwas größeren taktischen Bezug liefert die Erwägung, einen Mittelstürmer in das Spiel zu integrieren. In der Presselandschaft wurde der vermeintliche Wunsch Titos, einen Mittelstürmer zu verpflichten, aufgegriffen und es wurden bestimmte Namen genannt, die für eine Verpflichtung infrage kommen. Agüero, Lewandowski oder Rooney sollen die Kandidaten sein. Der Einfachheit halber beschränken wir uns in dieser Abhandlung auf Lewandowski und fragen, wie ein solcher Spieler auch für die Spielweise der Flügel interessant werden könnte. Es geht immer noch darum, die Flügelstürmer wieder mehr stürmen zu lassen und sie höher zu positionieren. Wie bereits in einigen anderen Artikeln auf barçawelt erörtert, würden dem FC Barcelona bei der Ankunft eines Mittelstürmer von der Klasse eines Lewandowski neue taktische Möglichkeiten eröffnet, ein Spiel aufzuziehen. Für die Flügel, aber nicht nur für sie, dürfte insbesondere die Tatsache interessant sein, dass solch ein Spieler Bälle verarbeiten, halten und sie den Mitspielern passgenau zuspielen kann.
Bisher gestaltete sich das Bild auf dem Platz dahingehend, dass die Außenstürmer sich zurückfallen lassen mussten, um eine Anbindung an das Spiel zu erhalten und an diesem teilzunehmen. Dabei durften sie sich stets ihres Schattens namens “Gegnerischer Außenverteidiger” sicher sein, der sie verfolgte und unter Druck setzte. Bei der Ballannahme standen sie mit dem Rücken zum Tor und es blieb ihnen nicht viel mehr übrig, als den Ball sofort zur Seite oder nach hinten weiterzuleiten. Mit dem Einsatz eines Mittelstürmers könnte die unbequeme Lage der Flügel verbessert werden. Fortan könnte der Mittelstürmer den Ball mit dem Rücken zum Tor annehmen und abtropfen lassen, während die Angreifer sich der leidigen Überwachung des Gegners entziehen und nun häufiger mit Tempo leicht invers auf das Tor zulaufen könnten, in der Hoffnung, der zentrale Stürmer würde ihnen den Ball wohlüberlegt zuleiten und ihren Zug zum Tor ausnutzen.
Wer weiß, womöglich wäre damit auch das Problem der Abhängigkeit von Lionel Messi deutlich entschärft.
5. Angriffpressing
Abschließend sei die Möglichkeit angesprochen, den Gegner bereits in der eigenen Hälfte unter Druck zu setzen und zu Fehlern zu zwingen. Balleroberungen im letzten Spielfelddrittel oder unmittelbar davor bedeuten große Gefahr für den Gegner, da dieser im
Spielaufbau seine Spieler staffelt und Lücken hinterlässt, in die die Angreifer des FC Barcelona vordringen können. In dieser Saison hat Tito Vilanova ein merklich restriktiveres Pressing spielen lassen, das zumeist später ansetzt und nur noch selten Innenverteidiger und Torwart unter Druck setzt. Dafür mag es Gründe geben, die in der Vergangenheit auf barçawelt sowie im Forum hinreichend beleuchtet wurden. Durch das spätere Ansetzen werden den Flügeln aber Optionen genommen, ihre Stärken zur Geltung zu bringen. Sie müssen sich weiter vom Tor entfernen und weitere Wege zurücklegen. Anstatt ihre Laufstärke und ihren Einsatz für das Pressing fruchtbar zu machen, werden sie angehalten, diese Attribute häufiger der Defensive zuzuführen.
Mit dieser Feststellung ist allerdings keine Wertung dahingehend verbunden, dass das unbedingte Angriffspressing zurückkehren soll.
Lösungsstrategien durch Systemumstellung
Neben den im 4-3-3 angesprochenen Strategien besteht für Tito Vilanova aber auch die Möglichkeit, eine Systemänderung anzuregen. Dabei ist aber gleich vorneweg gesagt, dass viele Systeme nicht zum FC Barcelona passen und die Mannschaft erheblich schwächen könnten. Vielen mangelt es an Tiefenstaffelung, weil sie überwiegend darauf gemünzt sind, gegen spielstärkere Mannschaften zum Erfolg zu kommen. Deshalb sei hier nur auf das 4-2-3-1 eingegangen, das im Verhältnis zum 4-3-3 allerdings keine weltbewegenden Veränderungen enthält. Die Realisierung einer “Doppelsechs” ist auch im 4-3-3 möglich und angesichts der tiefen Stellung von Xavi stellt sich die Frage, ob nicht bereits etwas dergleichen im Spiel der Katalanen vorhanden ist. Eine begriffliche “Doppelsechs” ist bei starken Mannschaften selten, auch bei den Bayern bricht immer wieder Javi Martínez nach vorne aus und unterstützt die Angriffsbemühungen.
Viel wichtiger als das System ist die Rolle, die die Spieler in dem System ausführen und wie sie in jenem interagieren. Weiter oben wurde beschrieben, dass es womöglich Spieler gibt, die der Mannschaft (defensiv) mehr helfen können als Xavi in seiner gegenwärtigen Verfassung. Das 4-3-3 ist das perfekte System für das vorhandene Spielermaterial bei Barça. Es schmeichelt spielstarken Mannschaften dank einer guten Staffelung und der offensiven Ausrichtung. Wenn alle Spieler auf der Höhe ihrer Schaffenskraft agieren, besteht keine Notwendigkeit für Systemänderungen.
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