Zum ersten Mal in der Geschichte gelingt es einer Nationalmannschaft, ihren Titel zu verteidigen. Die Spanier haben vollbracht, was niemandem vor ihnen gelang. Dass ausgerechnet dieser Mannschaft, dieser Ära von Spielern dieses Kunststück gelang, erinnert beinahe an eine schicksalhafte Fügung. Das ganz besondere, das scheinbar Unerreichbare, ist nun mal dem ganz Besonderen, den Besten, vorbehalten.
Von Raphael Lugowski
Stabilität der Defensive wichtig gegen Spanien
Die Europameisterschaft erreichte gestern Nacht ihren Höhepunkt. Die zwei herausragendsten Mannschaften des Turniers standen sich gegenüber, ungeachtet der Kritik am spanischen Spiel, das bis zum Finale nur wenig Begeisterung vermitteln konnte. Denn trotz der zuweilen bescheidenen Darbietungen ist es keiner Mannschaft gelungen, den neuen Europameister ernsthaft in Verlegenheit zu bringen. Weder Kroatien, Frankreich oder Portugal fanden ein Rezept, obgleich ihr Defensivansatz grundsätzlich überzeugte. Das Problem war vielmehr in der Offensive zu verorten, denn es gelang den besagten Mannschaften nicht, Akzente in der Offensive zu setzen. Somit war die Kehrseite der Stabilität in der Defensive gewissermaßen der Verlust an Durchsetzungsvermögen in der Offensive. Dennoch muss man nach dem gestrigen Abend konstatieren, dass diese Spielart als die erfolgversprechendste gegen das spanische Starensemble erscheint.
Italien: Spielart wird zum Verhängnis
Damit wird nämlich verhindert, dass die potenziell gefährlichsten Waffen der Spanier, Xavi und Iniesta, erfolgreich vom Tor weggehalten werden und keine gefährlichen Schnittstellenpässe an den Mann bringen können. Die Italiener allerdings können dieser Spielart nur wenig abgewinnen. Sie besitzen ihren eigenen Stil, der nicht im Entferntesten an den Catenaccio vergangener Zeiten erinnert. Schnelle vertikale Spielzüge sind ihre Spezialdisziplin, bei Möglichkeit werden die Stürmer sofort in Szene gesetzt und durch stark nachrückende Spieler unterstützt. Das ist ein tolles Spiel, das die Italiener bei dieser EM praktizierten. Schnell, erfrischend, geistreich, dynamisch und sehr schön anzuschauen. Diese Spielart ist aber auch gleichzeitig der Grund, warum sie gegen Spanien nicht bestehen konnten. Durch ihr starkes Aufrücken ihren natürlichen Zug zum Tor lassen sie Räume zurück, in die Spanien gestern messerscharf hineingestoßen ist. Gestern hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man ohne Anpassung auch eines erfolgreichen taktischen Systems gegen dieses Spanien chancenlos ist. Zu ausgereift ist das Spiel der Spanier und zu nahe an der Perfektion. Die einzige Methode zur Erhaltung der Siegchancen ist die Zerstörung als Leitmotiv gegen diese spanische Mannschaft.
Xavi und Iniesta oft im letzten Spielfelddrittel
Eine fast schon idyllische Landschaft bot sich dem Titelverteidiger in Kiew. Anfangs konnten die Italiener die Spanier noch mit einem guten Pressing im Zaum halten. Doch bereits nach wenigen Minuten stellten sie es ein und zogen ihre erste Verteidigungslinie weiter zurück, augenscheinlich um mit ihren Kräften zu haushalten, und überließen dem Gegner das Mittelfeld. Sie verweilten zehn Meter hinter der Mittellinie und nahmen eine eher passive Verteidigungshaltung ein. Daran ist nichts auszusetzen, sofern die Spieler gut und schnell in Richtung freigewordene Lücken und Ball verschieben. Darin sind die Italiener jedoch nicht die Besten. Eher träge und langsam gelingt es ihnen, Lücken zu schließen. Die Abstände zwischen den Spielern waren viel zu groß und ließen großzügige Schnittstellen entstehen, die bei der passiven Grundhaltung fatal waren. Denn es gelang den Spaniern durch diese passive Haltung relativ oft, ihre Passkünstler Iniesta und Xavi in das letzte Spielfelddrittel in unmittelbare Strafraumnähe zu bringen. Das ist gleichbedeutend mit der höchsten Alarmbereitschaft für den Gegner.
Italiens Verhalten nach Ballverlust suboptimal
Es war allerdings nicht unbedingt die passive Grundhaltung nach anfänglichem Mittelfeldpressing, die das Spiel entschieden hat. Die Gründe für die beiden Gegentore in der ersten Halbzeit liegen in dem Verhalten der Spieler beim Umschalten von der Offensive auf die Defensive. Die Gegentore sind nicht passiert, als Spanien zwei italienische Viererketten vor sich sah und einen geordneten Spielaufbau initiierte. Die zwei Gegentore entstanden nach Ballverlusten der Italiener in der Offensivbewegung. Die Spanier schalteten schnell um, schneller als die Italiener, und brachten im letzten Spielfelddrittel Iniesta und Xavi in Position für den entscheidenden Pass, den dann jeweils Fabregas und Jordi Alba, der zuvor einen Sprint über den gesamten Platz unternommen hat, zu sinnvollen Taten verwerteten. Natürlich spielten die Italiener keine unbedingte Offensive, sondern haben durchaus Spieler zur Absicherung zurückgelassen. Diese waren aber nicht immer geistesgegenwärtig genug und bei den schnellen Vorstößen vor allem von Alba hoffnungslos überfordert. Insbesondere aber bekamen sie keinen wirklichen Zugriff auf Iniesta und Xavi.
(Systembedingt)Zu hohe Abstände zwischen den Abwehrspielern
Es war also ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren, welche die gestrige Dominanz der Spanier ermöglicht hat. Eine Betonung verdienen aber das langsame Umschalten und die großen Abstände zwischen den Abwehrspielern. Gewissermaßen ist dieses Problem systembedingt. Wenn die zwei Außenverteidiger weit aufrücken, müssen andere Spieler nach außen ausrücken und die Abwehrspieler weiter auseinanderstehen, um die gesamte Spielfeldbreite abzudecken. Möglicherweise ist dieses System nicht optimal gegen eine Mannschaft wie Spanien, die über Spieler wie Iniesta und Xavi verfügt. Ganz sicher sogar ist solch ein System mit dieser konkreten Interpretation mit Problemen verbunden. Die Spanier haben die potenziellen Schwächen des Gegners erkannt und konsequent für ihre Zwecke genutzt. Im Allgemeinen präsentierte sich das spanische Spiel überdies hinaus sehr kreativ mit einer hohen Fluidität und viel mehr Bewegung als in der Halbfinalpartie gegen Portugal. Insofern war eine Leistungssteigerung erkennbar. In der zweiten Halbzeit war das Spiel gelaufen. Mit zehn Mann konnten die Italiener den ohnehin überlegenen Spaniern nichts entgegensetzen. Gratulation an den neuen Europameister!