Türchen Nr. 4 – Ein etwas anderer Rückblick auf Tata Martino

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Hinter unserem vierten Türchen verbirgt sich ein Artikel der etwas anderen Art für euch. Das Thema ist Tata Martino und seine bisherigen Leistungen als Trainer des FC Barcelona. Alle Facetten seines Wirkens bei Barça werden umfassend evaluiert – und zwar nicht nur in Bezug auf das Spiel seiner Mannschaft. Wer aber eine überaus seriöse, analytisch tiefgründige Abhandlung erwartet, der wird leider enttäuscht. Diesmal war es nicht der Verfasser, der den Trainer in Augenschein nahm, sondern ein überaus kompetentes Fußballgremium, sozusagen die ‘Liga der außergewöhnlichen Gentlemen’ – im wahrsten Sinne des Wortes.

Früher ist er tausende Male aus seiner luxuriösen Sportlimousine ausgestiegen, ohne sich nur irgendetwas dabei zu denken. Heute begleitet ihn ein großes Unbehagen und er hört sein Herz in seinem Ohr pochen, wie es an Fahrt zulegt, je mehr er über alles nachdenkt. Noch nie fiel ihm dieser Weg so schwer, und noch nie wurde er von so vielen Emotionen gleichzeitig übermannt. Zu diesem Zeitpunkt ist er sich noch nicht über seine Empfindungen im Klaren, eine tiefere Wut hindert ihn daran, sich darüber bewusst zu werden, und er entschließt kurzerhand, nicht weiter seiner inneren Stimme zu horchen, sondern einfach den Tag hinter sich zu bringen.

Er steigt aus und atmet erstmal tief ein. Welche eine schöne, klare Luft, denkt er sich, auch wenn er hier schon schönere Tage erlebt hat. Der Himmel ist leicht bewölkt und im Radio kündigten sie für später Regen an. Wenn er längere Haare hätte, würde ihm der leichte Wind bei einstelligen Temperaturen vielleicht nichts ausmachen – so aber war es für seinen Geschmack ein bisschen zu frisch, zumindest um den Kopf herum. Mit großen, entschlossenen Schritten ging er deshalb auf den Gebäudekomplex zu, in dem das Meeting vonstattengehen soll. Es war das erste Treffen dieser Art und wurde erst im September nach einer Statutenänderung in der Satzung festgeschrieben. Am Haupteingang wartet man bereits auf ihn, der Empfang fällt überwältigend aus. Mit einem Handschlag war es nicht getan, bei einer Umarmung wurde sein Brustkorb derart zugedrückt, dass er um die Integrität seiner Rippen fürchtete. Wenn hier nur jeder so herzlich wäre, geht es ihm durch den Kopf. Er ist sich sicher: Die Zeit kann keine Wunden heilen, wenn sie nicht körperlicher Natur sind. 
Trotz der Freude über seine Ankunft ist ihm aber das unterschwellige Befremden nicht entgangen. Er meint zu wissen, dass es sich auf ihn bezog, desgleichen wusste er aber auch, dass es nichts zu bedeuten hatte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen und verschwand ins Innere des klar strukturierten Gebäudes, nachdem er zuvor Einladungen zum Mittag- und Abendessen wegen anderweitiger Verpflichtungen absagen musste. Sein Ziel befand sich im zweiten Stockwerk, es war ein kleiner, kühler Raum, der mit seiner Ansicht nach zweifelhaften Bebilderungen ausgeschmückt war. Er hätte Stunden damit verbringen können, jeden Mitarbeiter im Gebäude zu grüßen, wollte aber nicht sowas wie Personenkult aufkommen lassen. Früher hatte er hier gearbeitet, das stimmt, und sie sind ihm ewig dankbar für das, was er ihnen gegeben hat. Er sieht und sah sich jedoch immer als Teil eines großen Ganzen, ihm ist der Rummel unerwünscht, auch wenn er es versteht, souverän mit ihm umzugehen. Statt den langsamen Fahrstuhls, auf den man oft mehrere Minuten warten muss, nimmt er wie früher die Treppen. Mist, ich bin spät dran, kommt ihm beim Blick auf die Uhr über die Lippen, die Fünf vor Neun anzeigt. Er legt deshalb einen Gang zu und erreicht den Raum in nicht einmal 30 Sekunden.

Damit hat er jetzt nicht gerechnet. Obwohl der Termin für 9:00 Uhr anberaumt war, ist noch keiner da. Schnell zückt er eine dicke Mappe aus der Tasche, um noch mal alles durchzugehen. Die ganze Nacht ist für die Vorbereitung draufgegangen und er hatte noch keine Gelegenheit, einen Blick auf seine Aufzeichnungen zu werfen. Im Raum war schon alles für das Meeting vorbereitet, kleine Snacks und Getränke standen auf einem großen, quadratischen Tisch bereit, der in einem klinischen Weiß gehalten war. Der Platz am Fenster sagte ihm am meisten zu, von dort aus konnte er die Tür sehen und den ganzen Raum gut überschauen. Ihm gefällt es, einen guten Überblick zu haben. Er arbeitet schnell, aber auch strukturiert und mag es nicht, wenn die Ordnung abhanden geht. Lässig ruht sein rechter Fuß auf dem linken Knie, während er sich seiner perfekt geordneten Aufzeichnungen annimmt, die vom Umfang her einem Koalitionsvertrag oder einer wissenschaftlichen Ausarbeitung in nichts nachstehen. Spielweise & Taktik, lautet die Überschrift seiner, wie er denkt, kleinen Abhandlung, doch nach nicht einmal drei intensiven Leseminuten wird seine Konzentration gestört…
Die Tür öffnet sich und ein älterer Herr mit lichtem grauen Haar und faltigem Gesicht betritt in den Raum. Mit nur einem flüchtigen Blick erkennt er sofort, wer da auf dem Stuhl sitzt, und während er sich kurz von ihm abwendet und dabei ist, die Tür zu schließen, dachte er darüber nach, dass der wohl charismatischste Glatzenträger der Welt, Pep Guardiola, heute ein wenig sonderbar aussieht. Er dreht sich wieder um und will ein lang einstudiertes Grüß Gott in den Raum werfen, doch dazu kommt er nicht mehr. Pep erhebt sich und dann bricht es aus ihm heraus. Er hatte mit vielem am heutigen Tag gerechnet, aber nicht damit, dass sein katalanischer Freund in einer Bayern-Tracht aufkreuzen würde. Was in Gottes Namen haben sie denn mit dir angestellt?, lautet seine Frage, die, vom verzweifelten Versuch begleitet, wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen, nur schwer zu verstehen war. Johan altes Haus, mach’ dich nur lustig. Du hast ja keine Ahnung, wie bequem diese kurzen Lederhosen sind. Und die hochgezogenen Socken stützen und entlasten die Waden und sorgen dafür, dass man kurze Hosen auch bei niedrigeren Temperaturen tragen kann. Es folgte eine herzliche Umarmung der beiden Barça-Legenden, die aufrichtiger nicht hätte sein können. Sie vertreten in vielerlei Hinsicht die gleiche Meinung und sind auch menschlich auf einer ähnlichen Wellenlänge. Beim Anblick des Abbildes von Sandro Rosell an der Wand wird beiden aber schlecht, weshalb Johan nicht lange fackelt und das seiner Meinung nach grässliche Bildnis abhängt und es so gegen die Wand lehnt, dass nur noch die Rückseite zu sehen ist. Ist doch gleich viel gemütlicher hier, sagt ein strahlender Johan und setzt sich nicht direkt neben Pep, um beim Meeting seiner Mimik und Gestik folgen zu können. Auch Johan holt seine Aufzeichnungen heraus und packt sie auf den Tisch. Ihm fällt ein, dass er vergessen hatte, seinen MP3-Player auszustellen. Er hat die In-Ear-Kopfhörer zwar ausgestöpselt, in der Aufregung um das Wiedersehen aber nicht mehr daran gedacht. Das holte er jetzt nach, die Musik war so leise gestellt, dass sie nur direkt am Ohr zu hören war. Auf was fährst du momentan ab?, richtet sich Pep wieder an ihn. Ach, nur das Übliche, klassische Musik – Mozart, Beethoven und all die anderen Künstler. Das waren die Künstler, denen er früher mal gelauscht hat, heute aber bevorzugt er dagegen richtige Musik. Sie steht stellvertretend für seinen Lebenswandel, weg vom ‘König-Image’, mit dem er noch nie viel anfangen konnte. Doch der Schein muss gewahrt werden, deshalb packte er seinen Player schnell ein und kommt auf ein anderes Thema zu sprechen. Wo sind denn die anderen? So langsam sollten sie sich doch einfinden, und noch bevor er diesen Satz zu Ende sprechen konnte, kommen sie alle nacheinander rein. Ein großgewachsener Typ mit schwarzen Locken sticht sofort ins Auge, es ist Frank Rijkaard, begleitet von dem derzeitigen Bondscoach, Aloysius – Johan grinst bei diesem Vornamen immer in sich hinein – Paulus Maria van Gaal, oder auch nur ‘Louis van Gaal’. Mit im Schlepptau ist Tito Vilanova, den die beiden Holländer verwirrt umherirrend aufgegabelt haben. Das bereits beschriebene Begrüßungsritual wiederholt sich, Louis kommt nicht umhin, sich über Peps befremdliche Tracht lustig zu machen, woraufhin dieser auf die immer dicker werdenden Hamsterbacken bei Louis zu sprechen kommt. Kauf dir mal ‘ne Tüte Deutsch, entgegnet der Holländer schlagfertig mit seinem alles andere als akzentfreiem Deutsch, und alle lachen herzhaft. Auch Tito stimmt in dieses ein, auch wenn er kein Wort verstanden hat – er hat sich aber von der guten Laune infizieren lassen.
Tito Vilanova setzt sich gegenüber von Pep hin. Mittlerweile können sich die beiden wieder in die Augen schauen, nachdem lange Zeit zwischen ihnen Eiszeit herrschte. Sie haben sich erst vor kurzem ausgesprochen. Pep hatte Tito während seiner Therapie nicht besucht, weil er sich unsicher war, ob seine Anwesenheit erwünscht ist. Sie hatten sich lange nicht gesprochen und hatten falsche Vorstellungen davon, was die Ursache hiervon war. Nun aber ist alles aus der Welt und die Freude über das Wiedersehen des langjährigen Weggefährten ist spürbar.
Nachdem nun auch Louis und Frank Platz genommen haben und vis-a-vis zu Johan sitzen, fehlt nur noch ein Trainer, damit das Meeting losgehen kann. Währenddessen spekulieren die Gentlemen am Tisch, wer das wohl sein könne. Louis van Gaal glaubt an die Wiederauferstehung von Rinus Michels, während Frank an Eusebio denkt, der seiner Meinung nach als eine Art Sicherung fungieren könnte. All jenes, was der Trainer der Barça B von sich gibt oder was ihm Wohlgefallen bereitet, könnte man direkt in die Mülltonne stopfen. Als dann die Tür zum letzten Mal aufgeht, trauen alle Beteiligten ihren Augen kaum. Was will der denn hier, denkt sich Tito, und Johan spricht es direkt aus: Du bist doch kein Trainer! Der Kopf von Jordi Roura läuft rot an, mit großer Mühe bringt er ‘doch, ich war eine Zeit lang Interimstrainer‘ über die Lippen. Johan und Louis fällt es sichtlich schwer, die Kontenance zu bewahren, während Pep sich gerade vorstellt, wie er Sandro Rosell erwürgt. Jordi ist auch überfragt, warum gerade er auserwählt wurde, und setzt sich neben Johan nieder.
Die Runde ist damit komplett und die Zeugniskonferenz über die Leistungen von Tata Martino als Trainer beginnt. In den Fächern Spielweise, Taktik, Nachwuchsförderung, Rückhalt innerhalb der Mannschaft, Öffentliches Auftreten und Style will die Versammlung nun die Noten ermitteln. Jeder Trainer ist für einen bestimmen Bereich zuständig, kann aber bei der Endnote von der Konferenz überstimmt werden. Pep Guardiola ist der Vorsitzende der Versammlung und überdies hinaus für die Evaluation der Spielweise zuständig. Fast 100 Seiten hat er zu diesem Zweck zusammengetragen, jetzt geht es nur noch darum, es zu komprimieren und so zu präsentieren, dass alle es verstehen…

Nochmal ein herzliches ‘Hallo’ in die Runde. Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Es geht heute darum, dem neuen Trainer des FC Barcelona ein Zeugnis auszustellen, das seinen bisherigen Leistungen als Trainer gerecht wird. Jeder von euch bekam zu Saisonbeginn die Aufgabe, Tata Martino unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu beurteilen und die Notenfindung voranzutreiben. Wie ich sehe, seid ihr eurer Pflicht gewissenhaft nachgekommen – naja, fast. Ich für meinen Teil sollte den Trainer aus Argentinien danach beurteilen, auf welche Weise er zu spielen pflegt. Als ich mich hierzu bereit erklärte, hatte ich noch keine Ahnung, wie grauenvoll diese Aufgabe werden würde. Ich musste mir Woche für Woche mit ansehen, wie die Tradition des Tiki Taka und des Totaalvoetbal mit Füßen getreten wird. Im Hinspiel der Champions League gegen Ajax Amsterdam fing die Mannschaft plötzlich an, mit langen weiten Bällen zu operieren – hier spürte ich zum ersten Mal das Bedürfnis, Tata ein paar auf den Kopf zu geben. Als dann gegen Rayo Vallecano der Ballbesitzanteil auf unter 50% fiel, kochte die Wut in mir drin. Wo bleibt das schöne Kurzpassspiel, wo die Ästhetik? Das hat doch überhaupt nichts mehr mit der Philosophie gemein, die man mich lehrte und die ich an meine Spieler weitergegeben hab’. Tata beruft sich in Interviews zwar immer auf das Spiel alter Tage, er fördere die Ästhetik – auf dem Platz ist hiervon aber nichts zu sehen. Das Team ist kaum in der Lage, das Spiel zu kontrollieren. Im Gegenteil, sie lässt sich das Spiel vom Gegner diktieren und verlagert es in die eigene Hälfte, für Barça eigentlich ein untragbarer Zustand. Hinzu kommt, dass Tata die Spieler mit seiner Idee vom Spiel angesteckt hat. Anstatt die Spielweise zu kritisieren, wird sie öffentlich verteidigt. Das kann nicht gut gehen, die Niederlage gegen Ajax im Rückspiel war nur ein erster Vorgeschmack auf das, was noch kommt. Ajax hat dem großen FC Barcelona gezeigt, wie der totale Fußball funktioniert. Er hat Tatas sogenannten pragmatischen Ansatz pulverisiert. Vor diesem Hintergrund muss ich Tata Martino leider einen Unterkurs geben, mehr hat er sich in meinen Augen nicht verdient.
Die Ausführungen von Pep Guardiola haben bei den anderen Teilnehmern einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der sonst nur sachlich-analytisch argumentierende Pep hatte mit dem Herzen gesprochen. Er fürchtet, dass die aktuelle Mannschaft von Barça ihr Erbe nicht annimmt und sich noch weiter von der Philosophie des Vereins entfernt. Trotz der inneren Erschütterung über diese klaren Worte kann nicht jeder Teilnehmer das harte Urteil mittragen. Ich verstehe deine Besorgnis, Pep!, begann Tito seine kleine Rede. Ich kann sehr gut nachfühlen, wie es in dir, einem der größten Verfechter des Totaalvoetbal, aussehen muss und gebe zu, dass das Spiel unter rein ästhetischen Gesichtspunkten derzeit nicht zu Hundertprozent überzeugen kann. Wenn du Tata aber einen Unterkurs gibst, ohne nach links und nach rechts zu schauen, könntest du vielleicht einen Fehler machen. Ich bin mir sicher, dass du als perfekter Analytiker, wie ich dich in vielen erfolgreichen Jahren kennenlernen durfte, noch wesentlich mehr Punkte bedacht und aufgezeichnet hast. Es trifft zu, dass das Spiel nicht mehr so ansehnlich ist wie noch zu der Zeit, als wir fast alles abgeräumt haben. Es hat aber auch seine Vorzüge, die man auch in dem Fach ‘Spielweise’, in dem es eigentlich nur um das perfekte Spiel geht, einbeziehen muss. Letztlich musst du Tata hier auch eine gewisse Einschätzungsprärogative zukommen lassen und bei seinem Spiel einen etwas veränderten Maßstab anlegen.
Was zur Hölle ist Einschätzungsprärogative?, entgegnete Pep mit einem Lächeln auf den Lippen. Nein, Ich weiß was du meinst. Mir gefällt das Spiel überhaupt nicht. Aber meine individuelle Sichtweise ist nicht unbedingt als Grundlage für eine Benotung geeignet. Ich habe in der Tat alle Vor- und Nachteile der Spielweise bedacht, auch wenn das nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Wenn man es taktisch betrachtet, erscheint das Spiel in einem etwas anderen Licht, wenngleich es dadurch nicht unbedingt schöner wird. Will noch jemand etwas hierzu loswerden? Es folgt ein kollektives Kopfschütteln. Louis meint, dass alles zu dem Thema gesagt sei und er gleich bei der Taktik noch näher auf das eingehen werde, was Pep soeben angeschnitten hat. Derweil denkt Jordi Roura nur an seine nächste Mahlzeit. Er hat zwar morgens gut, sogar sehr gut gefrühstückt, doch nimmt er zu dieser Stunde für gewöhnlich sein zweites Frühstück zu sich. Louis van Gaal bereitet kurz seine Unterlagen vor und geht dann auf die Taktik von Tata Martino ein.

Fortsetzung folgt…

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