Viel Hohn und Spott musste Thomas Vermaelen in seinem ersten Jahr als Spieler des FC Barcelona über sich ergehen lassen. Von Begriffen wie Fußballinvalider bis hin zum Fehleinkauf reichte das Repertoire an Umschreibungen für den belgischen Nationalspieler. Doch in der jüngsten Zeit straft der Innenverteidiger seine Kritiker Lügen. Mit hervorragenden Leistungen hat sich Vermaelen in das Blickfeld von Teamchef Enrique gespielt und zeigte dabei altbekannte Stärken aus fast schon vergessenen Zeiten.
23. Mai 2015: Der FC Barcelona bestreitet die abschließende Begegnung im Liga-Betrieb gegen Deportivo de La Coruña, mit der Meisterschaft schon längst in der Tasche. Das Camp Nou war schon bereit für ein großes Fest und die ersehnte Übergabe des Meisterpokals. Doch für einen Akteur auf dem Platz hat dieses Spiel eine ganz andere, größere Bedeutung als für die restlichen Feldspieler. Nach mehr als zehn Monaten darf Thomas Vermaelen zum ersten Mal im Dress der Blaugrana auf das Feld auflaufen. Ein Segen für den Belgier, womit eine sehr lange Leidenszeit auch ihr Ende fand. Doch wie war es dazu gekommen?
Die Vorgeschichte
Im Sommer 2014 wurde Vermaelen von Belgiens Teamchef Marc Wilmots in den Kader für die anstehende Weltmeisterschaft in Brasilien einberufen. Vermaelen fand sich damit in einer hochklassigen Auswahl mit Spielern wie Vincent Kompany, Kevin de Bruyne, Thibaut Courtois oder auch Eden Hazard wieder. Allerdings sollte der Genuss von WM-Spielminuten für den damals 28-Jährigen nicht von langer Dauer sein. In seinem ersten Spiel für die belgische Auswahl gegen Russland musste sich Vermaelen schon in der 31. Minute auswechseln lassen, wissend, dass die Chancen auf einen Verbleib in dieser Weltmeisterschaft vorbei waren.
Im brasilianischen Krankenhaus erhielt der Belgier dann die Diagnose einer Bänderverletzung. Konkret soll sich Vermaelen einen Teilabriss zugezogen haben, der ihn laut eigener Aussage allenfalls zehn Tage kosten würde – eine fälschliche Einschätzung, wie sich erst in Europa ergab. Aufgrund anhaltender Schmerzen im Bein ließ Vermaelen erneut eine Diagnose erstellen, die das schockierende Ergebnis eines kompletten Bänderrisses ans Tageslicht brachte. Und trotz alledem verließ der Innenverteidiger den FC Arsenal, um eine fußballerisch höhere Ebene zu betreten, und das bei keiner anderen Adresse als beim FC Barcelona.
Kopfballstärke und Kompromisslosigkeit
Warum die Katalanen den Innenverteidiger trotz einer langwierigen Verletzung verpflichtet haben, lässt sich anhand seiner Charakteristika leicht erklären. Mit seinen 1,83 Metern sowie 80 Kilogramm besitzt Vermaelen zwar nicht außergewöhnliche Maße für Leute seines Faches, doch trotzdem erwarb er in England aufgrund seiner kompromisslosen Zweikampfstärke, egal ob nun in Luft- oder Bodenduellen, den Spitznamen “Verminator”. Gründe dafür waren u.a. seine gute Sprungkraft bei Kopfballduellen sowie seine antizipativen Fähigkeiten.
Insbesondere bei Kopfballduellen helfen Vermaelen diese beiden Aspekte, um mit physisch deutlich besseren Innenverteidigern mitzuhalten. Durch gutes Antizipieren schafft es Vermaelen, aus seiner Grundposition im richtigen Zeitpunkt herauszurücken und mit relativ viel Sprungkraft in ein Kopfballduell zu gehen. Dadurch kann er im Gegensatz zu seinem direkten Konkurrenten, der mehr aus der Statik kommen muss, dynamisch in ein Duell gehen und dieses zumeist auch gewinnen. Begünstigt wird diese Stärke Vermaelens auch noch mit seinem guten Grundspeed, dank dem er schnell die Position für einen Kopfball erreichen kann. Die unten stehende Grafik verdeutlicht Vermaelens Fähigkeiten in Kopfballduellen im Vergleich zu seinen Innenverteidiger-Kollegen Mertesacker (1,98 m) sowie Koscielny (1,86 m) beim FC Arsenal (gewonnene Kopfballduelle/Spiel).
Doch auch auf dem Boden bringen Vermaelen seine antizipativen Fähigkeiten einen riesigen Vorteil. Hierbei bedient er sich einer spezifischen Herangehensweise, die er auf verschiedene Spielsituationen projizieren kann. Vermaelen positioniert sich dabei schräg zum Gegenspieler, womit er seinem Kontrahenten den Weg mit Ball ins Zentrum versperrt beziehungsweise den Laufweg nach außen offen lässt. Würde er trotzdem ins Zentrum ziehen, dann könnte der Belgier den Ball mit seiner Antizipation relativ einfach abfangen. Sollte er aber nun versuchen, am Innenverteidiger nach außen vorbeizuziehen – durch Inanspruchnahme des Laufwegs, den ihm der Innenverteidiger offen lässt -, kann Vermaelen eine genaue Bewegung mit seinem stärkeren linken Fuß, den er aufgrund dieser Systematik immer in derartigen Zweikämpfen einsetzen kann, ausführen, um den Ball dem Gegenspieler zu entnehmen. Insbesondere aufgrund der Kompromisslosigkeit in derartigen Situationen beziehungsweise dem Unterbinden eines gegnerischen Angriffes verdiente sich der 29-Jährige seinen bereits angesprochenen Spitznamen.
Doch auch mit Ball hat Vermaelen durchaus Qualitäten und kann Vorstöße unternehmen. Dem Belgier ist die Position des Linksverteidigers nicht unbekannt, was ihm in gewissen Situationen als Innenverteidiger die Hemmung nimmt, sich mit dem Ball am Fuß nach vorne zu begeben. Dieser vertikale Stil kann bei bestimmten gegnerischen Systemen, die sehr auf die Isolierung von Passoptionen zu den eigenen Mitspielern (durch Deckungsschatten, etc.) oder auch auf Mannorientierungen fixiert sind, helfen, um dadurch in vordere Räume zu stoßen und damit neue Spielsituationen sowie neue Räume herzustellen; beziehungsweise danach auch kurzfristig selbst eine Passoption im gegnerischen Strafraum/Drittel darzustellen. Damit weist er im Vergleich zu Gerard Piqué eine äußerst starke Gemeinsamkeit auf.
Hinsichtlich seiner Passqualitäten ist die Premier League wahrscheinlich ein eher schlechter Gradmesser, um seine potenziellen Stärken hier klar auszumachen. Aufgrund der größtenteils relativ schwachen Pressingsysteme, die beim Großteil der Mannschaften kollektiv schlecht abgestimmt und auch selten kompakt sind, werden die Passqualitäten selten richtig geprüft. Zudem sind auch die Ballbesitzsystematiken in der Premier League bei Weitem nicht so dominant ausgerichtet wie es beim FC Barcelona der Fall ist. So kam Vermaelens Ex-Klub Arsenal in den letzten Spielzeiten immer zu Ballbesitzwerten von nur 55 bis 60 Prozent und lag damit schon an der Spitze in der Premier League. Dadurch werden auch technische Nachlässigkeiten oder auch das Gegenteil, die spielerische Beschlagenheit, nicht immer sehr offensichtlich dargelegt.
Dennoch hatte auch Vermaelen eine für dortige Verhältnisse relativ gute Passquote, die stets zwischen 80 und 90 Prozent pendelte und in der Anzahl zwischen 40 und 50 Pässen lag. Hervorzuheben sind allerdings eher die Aktionen ohne Ball, die ihm auf der Insel ein gewisses Stück Reputation brachten und das Interesse anderer Topklubs weckten. Als sein Wechsel zum FC Barcelona dann feststand, war es interessant zu beobachten, wie Vermaelen mit diesen neuen Bedingungen umgehen und sie bewältigen würde.
Vermaelen überzeugt, doch Achtung…
Und aufgrund von Gerard Piqués Sperre in einer relativ frühen Phase dieser Saison erhielt der Belgier die Möglichkeit, im direkten Konkurrenzkampf mit Marc Bartra sowie später auch Jérémy Mathieu um den freien Platz neben dem aufbau- und zweikampfstarken Javier Mascherano zu kämpfen. Vermaelen konnte sich überraschenderweise durchsetzen und es offenbarten sich einige interessante, aber auch einige verbesserungsbedürftige Elemente seines Spiels.
Eingehen möchten wir vor allem auf die ersten beiden Liga-Spiele Vermaelens gegen Athletic Bilbao sowie den Málaga CF, die im Grunde genommen kaum unterschiedlicher hätten sein können. Da wären auf der einen Seite die omnipräsenten und pressingstarken Mannen aus dem Baskenland, die mit aggressivem Zweikampfverhalten und starkem Verschieben auf sich aufmerksam machen, während auf der anderen Seite die Andalusier auf ihre kompakte und passive Formation bauten, um den Katalanen Abschlüsse aus günstigen Winkeln und Zonen nicht zu ermöglichen.
Das Spiel gegen Bilbao
Im Spiel gegen Bilbao zeigten sich bei Vermaelen im technischen Bereich kleine Nachlässigkeiten beim ‘First Touch’, wenn der Gegner ein höheres Pressing ansetzte. Diese Problematik war keineswegs häufig zu sehen, doch könnte dies bei Mannschaften, die auf ein noch höheres Pressing setzen (Atlético Madrid im Calderón; Bayern München in der Allianz Arena), unter Umständen zum Problem werden. Denn bei derartigen Pressingsystemen ist ein allseits guter ‘First Touch’ Grundbedingung, um sich eine gute Position für die anstehende Folgeaktion zu verschaffen und hinter die Pressingwellen des Gegners zu gelangen.
Weiteres – eher negatives – Merkmal in diesem Spiel war das Passprofil Vermaelens im eigenen Aufbau. Der Belgier erschien zwar in den Passstatistiken auf dem ersten Platz, dennoch war die Auswahl seiner Pässe äußerst eintönig. Gegen Bilbao passte Vermaelen zumeist zu Mascherano (21), gefolgt von Bravo (20) sowie Alba (19). Damit belegte er drei der vier vorderen Plätze, was die Häufigkeit von Passkombinationen anbelangt. Natürlich verlangt man von einem Innenverteidiger keine spektakulären Vorstöße, dennoch ließ Vermaelen gegen Bilbao etwas von seiner Vertikalität bei Arsenal vermissen. Besonders bei den laufstarken und mannorientierten Basken hätten kurze Läufe nach vorne, um neue Spielsituationen und Passwinkel zu ermöglichen, sicherlich nicht geschadet. Zudem übersah er häufig auch aussichtsreiche Aufbauoptionen, wie diagonale Bälle auf einen häufig abkippenden Rakitić oder auch breitstehenden Messi, die viel Verwirrung für den Gegner bedeutet hätten. Welches Potenzial er hätte, wenn er nicht so häufig die offensichtlichen Passoptionen bedienen würde, demonstrierte er unter anderem auch mit einem tollen langen Ball auf Suárez, womit ein Schnellangriff Barcelonas eingeleitet werden konnte.
Was sein Spiel gegen den Ball anbelangt, da zeigte Vermaelen schon sein Potenzial aus seiner Arsenal-Zeiten. Der Innenverteidiger rückte einige Male im richtigen Zeitpunkt heraus, war in Kopfballduellen stets richtig positioniert und konnte seine zuvor schon angesprochene Herangehensweise im Zweikampfverhalten demonstrieren. So konnte er beispielsweise nach einem Schnellangriff Bilbaos, bei dem das Mittelfeld weiträumig überbrückt und anschließend schnell in den Lauf von Aduriz gespielt wurde, diesen mit einer schrägen Positionierung von einem Lauf ins Zentrum abhalten und anschließend mit seinem stärkeren linken Fuß den Ball zurückgewinnen.
Im gruppentaktischen Verhalten fielen bei Vermaelen zwei Punkte auf. Zum einen hat er die Torwartkette beziehungsweise den dazugehörigen Ablauf schon ziemlich gut verinnerlicht und es ist schwierig, hier einen Unterschied zu seinen Teamkollegen auszumachen. Der zweite und deutlich interessantere Aspekt war allerdings die Dreierkettenbildung mit ihm, Mascherano sowie Busquets. Dabei stieß der Belgier manchmal in das Zentrum des Spielfeldes und zog sich damit in das Blickfeld des pressenden ballfernen Bilbao-Stürmers. Busquets konnte dabei in den zuvor von Vermaelen verlassenen Raum stoßen und damit eine Menge Raum vorfinden. Zwar wurde diese Variante noch nicht sehr effektiv ausgespielt beziehungsweise der damit angestrebte Raumgewinn, mit dem man gegnerische Pressinglinien überspielen kann, war nicht sonderlich groß. Für die Zukunft aber könnte es noch eine interessante Aufbauformation werden.
Das Spiel gegen Málaga
Die Partie gegen den FC Málaga im ersten Heimspiel dieser Saison brachte ein anderes und etwas simpleres Bild als das Spiel gegen Bilbao. Busquets kippte in dieser Partie oft ab, womit Vermaelen häufiger im linken Halbraum aufzufinden war. Aufgrund der passiven Ausrichtung der Andalusier standen die Katalanen sehr weit in der Hälfte des Gegners, womit ein fehlerfreies Zweikampfverhalten und Passspiel gefragt war. Vermaelen lieferte in beiden Aspekten eine makellose Partie und driftete dabei situativ sogar weit nach links ab, um hier einen Konter über die Flügel präventiv zu verhindern. Die Statistik belegt diesen Aspekt: Gleich dreimal konnte Vermaelen einen Konter erfolgreich verhindern.
Im Hinblick auf seine technischen Fertigkeiten unter Druck konnte man in dieser Partie nicht viel herauslesen. Málaga presste kaum, und wenn dies passierte, dann nicht sehr kompakt und kaum im Kollektiv. Dennoch war des Öfteren zu sehen, dass der Belgier eine außerordentlich gute Ballannahme bei hohen Bällen zu haben scheint. So konnte er häufig eine Verlagerung von seinem Innenverteidiger-Kollegen Mascherano, die hoch und relativ direkt gespielt wurde, sehr sauber annehmen. Allerdings fehlten auch hier, wie schon in der Partie gegen Bilbao, die situativen Vorstöße, um neue Spielsituationen zu generieren, wie die nebenstehende Grafik zeigt. Ob es sich hierbei, aufgrund des angepeilten Flügelfokus von Luis Enrique, um ein bewusstes Ignorieren von Läufen/Zuspielen in zentrale Zonen handelte oder nicht, ist allerdings nicht auszumachen. Insofern könnte Vermaelens Entwicklung in dieser Hinsicht noch eine spannende Angelegenheit werden.
Schlussendlich konnte Vermaelen aber doch noch einen offensiven Beitrag zu diesem Spiel leisten. Nach einem Eckball bringt Luis Suárez das Spielgerät in den Strafraum, Kameni kann nicht ordentlich klären und der Belgier donnert die Kugel ins Gehäuse.
Wird der “Verminator” seinem Namen gerecht?
Laut Statistik erreichte Vermaelen in diesen bisherigen Ligaspielen durchschnittlich 10,5 Clearances (Anm.: eine Clearance ist eine Aktion, mit der ein gegnerischer Angriff unterbunden wird, zumeist ein gewonnener Zweikampf oder eine Kopfballabwehr) sowie 4,5 Interceptions (Anm.: eine Interception ist das Abfangen eines Passes, während er sich noch auf dem Weg zum Mitspieler befindet). Beide Statistiken spiegeln gute Werte wider, die aufzeigen, wie gut Vermaelen seine antizipativen Fähigkeiten bereits einzusetzen wusste und wie kompromisslos er bei gefährlichen Situationen reagiert. Auch in der Positionsfindung sowie der Balancierung war der Belgier, insbesondere im Spiel gegen Málaga, stets ein sicherer Rückhalt und kaum zu überwinden.
Doch es braucht beim FC Barcelona eben nicht nur die physischen und körperbetonten Attribute, die Innenverteidiger ausmachen, sondern auch Fähigkeiten in der Spieleröffnung und der Entscheidungsfindung. In diesen Bereichen hinkt der 29-Jährige bisher noch hinterher. Doch genauso wie Vermaelen seine bisher sensationellen Fähigkeiten im Spiel gegen Ball erst noch konstant unter Beweis stellen muss, genauso kann man ihm die Zeit geben, sich hier noch an die Mannschaft anzupassen. Insofern bleibt als Fazit auszusprechen: Seinem Spitznamen “Verminator” von der Insel wurde der Innenverteidiger bislang gerecht, der Bezeichnung als kompletter Innenverteidiger des FC Barcelona allerdings noch nicht zur Gänze.