120 kräfteraubende Minuten sind gespielt. Die Chance, den spannenden Schlagabtausch im Spielfluss zu entscheiden, ist längst passé. Nach der Verlängerung stehen sich die Mannschaften von Horst Hrubesch und Rogério Micale im Elfmeterschießen gegenüber. Es folgt der Matchball des Shootouts. Brasiliens Aushängeschild und Identifikationsfigur Nummer 1 tritt zum Strafstoß gegen Timo Horn, den jungschen Bub aus Köln an. Der Schütze holt tief Luft, fokussiert sich auf Ball und Tor und läuft mit leichter Verzögerung an, bevor seine schwarzen Schuhe das runde Leder touchieren. Trifft er, feiern die Zuschauer ihn als Held, misslingt der Versuch, dann Gnade ihm Gott. Was dann passierte, ist seit diesem Samstag Geschichte. Der Akteur, auf den alle Augen gerichtet waren, beendete den Abend mit einem weinenden und lachenden Auge, als er – Neymar Jr. – mit seinem „100% Jesus“-Stirnband und dem Olympischen Gold um den Hals, freudig in die TV-Kameras strahlte.
Neymar ist neben Usain Bolt rückblickend vielleicht eines der größten Sinnbilder von Olympia 2016 und das nicht nur dank seiner geschossenen und vorbereiteten Tore. In ähnlicher Manier wie der Ausnahme-Sprinter hat sich der Stürmerstar des FC Barcelona am vergangenen Wochenende in den Geschichtsbüchern des Sports verewigt: Bolt rast – Neymar dribbelt. Bolt grinst – Neymar lacht. Der eine sprintet – der andere kickt. Beide bringen die Massen zum Toben. Doch es gibt einen gröberen Unterschied zwischen den Weltstars als das Grundwesen ihrer Disziplinen: Während der großgewachsene Jamaikaner – abgesehen vom Staffellauf – das Publikum durch seine individuellen Leistungen zu verzücken versucht, trägt der leichtfüßige Brasilianer zugleich das Erbe seiner landsmännischen Fußballlegenden, die Verantwortung für seine Mannschaft und den Stolz einer gesamten Nation auf seinen schmalen Schultern. So balanciert die Bewertung von Neymars Leistungen im Nationaltrikot immer zwischen triumphierender Lobhudelei und grenzenloser Überdramatisierung.
Schwarz-weiß hat keine Graustufen
Es ist nichts Neues, dass im verwöhnten Erfolgsverständnis mancher Sympathisanten Neymars und Co. kaum Spielraum für Tatsachenauslegung und Graustufen herrscht, wenn die millionenschweren Kicker sich vermeidlich im Flutlicht sonnen und den hohen Ansprüchen hinterherhinken. Dass es sich bei der Olympia-Auswahl überwiegend um Nachwuchstalente und nicht um gestandene Vollblutprofis handelt, wird oft schnell ignoriert. Die Wahrheit nimmt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Beobachtungen Platz. Tatsächlich schien aber die einheimische Audienz während der diesjährigen Olympischen Spielen ihre Meinungsbildung auf die alleinige Existenz von Schwarz und Weiß reduziert zu haben. Was zählt, ist eben Sieg oder Niederlage. Das ist hart und rigoros, vor allem für ein Volk, welches kulturell so vielfältig durchmischt zu sein scheint wie das des flächen- und bevölkerungsmäßig fünftgrößten Staates der Erde. Was fehlt, ist die Leichtigkeit. Bei den Auftritten der Südamerikaner wirkten jedenfalls weder Publikum noch Spieler entspannt. Nachdem man zur WM 2014 eine deutliche Demütigung gegen das Ensemble von Jogi Löw hinnehmen musste, stieg die psychische Last ins Unermessliche für das junge, unerfahrene Team und ihre Nummer 10.
Vom Pop- zum Weltstar
Neymar da Silva Santos Júnior, der Junge mit der schmächtigen Figur und dem Babyface, ist über Nacht vom Posterboy zum ernstzunehmenden Spitzensportler gereift und das nicht erst seit Olympia. Neben dem Spielfeld macht der Star Werbung für Nike, Gillette, Panasonic und hüpft verliebt mit schönen Models durch die Medienkulissen und Partyszenen. Das hinter dieser plastischen Oberfläche ein Fußballer von Weltklasse-Format steckt, scheint so mancher Beobachter zu verdrängen. Vielleicht ist es aber auch die Kombination aus beiden Eigenschaften, die Neymar zum Hoffnungsträger und somit zum gefunden Fressen für Kritik machen. Der Vater eines jungen Sohnes ist eben keines dieser Nachwuchstalente, sondern einer der unterhaltsamsten und effektivsten Offensiv-Künstler Europas.
Insgesamt sprechen 155 Tore und 91 Assists in 275 Pflichtspielen eine deutliche Sprache für einen leistungsstarken Spieler, der noch vor gut 3-4 Jahren von der Presse als „One-Hit-Wonder“ deklariert wurde. Die Annahme, dass sich der damals noch 21-Jährige nicht an die europäische Kultur und Klima anpassen könne, bestätigte sich bis heute nicht. Während Neymar in der Serie A beim FC Santos in 103 Auftritten auf 54 Treffer und 31 Torvorlagen kam, steuerte er bislang 55 Golazos und 37 Vorbereitungen für die Titelgewinne der Blaugranas bei.
Fakt ist also, dass Neymar seine Topform aus den Anfängen in Brasilien nicht nur gehalten, sondern merklich gesteigert hat. Im Hinblick auf die Statistiken steigt als linker Flügelspieler aktuell national sowie international nur Cristiano Ronaldo in höhere Performance-Sphären als der Brasilianer. Klar, mit einem Marktwert von 100 Millionen Euro ist Neymar nach Leo Messi und dessen portugiesischen Langzeitkonkurrent einer der teuersten Spieler der Welt. So schießt mit jedem Cent, den diese Spieler im Laufe ihrer Karrieren an Wert hinzugewinnen, auch die Erwartungshaltung, die von außen an sie gerichtet wird, exponentiell gen Himmel.
Bei Barça hat Neymar ein ganzes Stück an Hilfsbereitschaft dazu gewonnen. Im Gegensatz zu seinem Werbeimage ist Neymar auf dem Feld alles andere als glatt. Seine hervorragende Technik treibt seine Gegenspieler hin und wieder so in den Wahnsinn, dass sie sich nur durch den Einsatz von groben oder einer Vielzahl von mittelschweren Fouls zu helfen wissen. Doch der schmächtige Brasilianer weiß sich zu wehren, kann auch mal giftig werden oder einen arroganten Blick zuwerfen. Das ist natürlich immer ok, solange die Grenze zur Unsportlichkeit nicht überschritten wird. Seine Kabinettstückchen setzt Neymar – im Gegensatz zu früher – ökonomischer ein, um Gegner zu überspielen oder in den richtigen Momenten das eigene Publikum anzuheizen. Im Team der Katalanen kann er sein Potenzial ausschöpfen, von den Besten lernen und zugleich dem Gegner Knoten in die Beine spielen.
Was Neymar bei Barca allerdings nur geringfügig zu lernen scheint, ist die Entwicklung und der Einsatz von Führungsqualitäten. Beim FC Barcelona geben auch heute noch Spieler wie Messi oder Iniesta, so klein und bescheiden sie auch wirken mögen, den Ton an. Auch wenn sich die Mannen von Luis Enrique untereinander blendend verstehen, gibt es durchaus einen engen Kern, der schon seit vielen Perioden zum etablierten Personal gehört und der im wahrsten Sinne des Wortes weiß, wie das Spiel läuft. Zu diesem Kern gehört Neymar eher nicht. Er spielt zwar immer, muss aber keinem Piqué oder Busquets mitteilen, wie dieser seinen Job zu machen hat. So kann man es Neymar kaum verdenken, dass er die Leistungen aus Barcelona nicht ohne weiteres mit in sein Heimatland transferieren konnte. Brasiliens Olympia-Kader hat nun mal keine erfahrenen Größen, mit denen Neymar eine klinische Kooperation eingehen könnte. Statt Messi und Suárez spielte er an der Seite von Akteuren, die bereits vor dem Turnier mit dem Titel „der nächste Neymar“ belegt wurden. In einem Team voller potenzieller Doppelgänger und Nachfolger ist es schwer, Fuß zu fassen oder gar den Dirigentenstab in die Hand zu nehmen. Selbst Barça-Kollege Rafinha wurde im Endspiel nur eingewechselt und stellte – abgesehen vom verwandelten Elfer – keine große Unterstützung für seinen Teampartner dar. Und dennoch musste Neymar liefern, denn er sollte den Ton angeben und die Mannschaft mitreißen. Neymar musste physisch und psychisch einstecken, dafür sprechen die Grätschen des Gegners und die gegen ihn gerichteten Chöre der sogenannten ‚Fans‘. So erntete der Dribbler nach den enttäuschenden Nullnummern gegen den Irak und Südafrika mehr Spott und Hohn als Lob und Ruhm.
Die Medaille hat also immer zwei Seiten
Was hat ein Großteil der Seleção-Anhänger also eigentlich mit ihren Nationalfarben gemeinsam? Beide wehen wie Fahnen im Wind. Was wie ein schlechter Scherz daherkommen mag, ist mittlerweile zur zynischen Realität im modernen Profisport geworden. Erfolg und dessen Preise bieten eine große Angriffsfläche für Kritik und Missgunst. Wobei der zweite mit dem ersten Punkt eigentlich so viel zu tun hat wie Javier Mascherano mit dem Toreschießen. So justieren sich diverse Fragen: Wie kann sich reflektierte und konstruktive Kritik darin äußern, einen einzelnen Spieler für das Versagen einer gesamten Mannschaft verantwortlich zu machen? Wie können auch die Medien dazu beitragen, einen gewissen Grad an Druck von den Protagonisten zu nehmen? Kann der IOC gemeinsam mit der Fifa und den Vereinen nicht besser angepasste Vorgaben für die Kaderzusammenstellung bezüglich weiterer älterer Athleten treffen? Wieso greift der IOC bei Dopingsündern zumeist fahrlässig und nachsichtig durch, aber droht Neymar mit Sanktionen für das Tragen seines Stirnbandes mit politischem Statement?
Aussagen von und über Neymar nach dem emotionalen Finale in Rio
Neymar
„Das ist eines der schönsten Dinge, die mir in meinem Leben passiert sind.“
„Denn es war auch viel gehässige Kritik dabei.”
„Jetzt müssen meine Kritiker verstummen.“
„Es ist schwer, meine Gefühle in Worte zu fassen. Ich habe mir einen großen Traum erfüllt und diesen in meinem Heimatland erreicht zu haben, macht mich sehr stolz.“
Piqué
„Es war nicht leicht für ihn, weil das Brasilien-Trikot einen enormen Erfolgsdruck mit sich bringt.”
Samuel L. Jackson
„Neymar holt Gold für Brasilien! Das Gastgeberland bekommt das, was am wichtigsten für ein fußball-religiöses (-verrücktes) Land ist.“
Carli Lloyd
„Ich freue mich für Neymar. Es gibt keinen besseren Weg, den Leuten zu zeigen, dass sie falsch lagen.“
Das Neymar aber auch anders kann, lies er seine Kritiker nach dem Spiel deutlich spüren:
Vídeo de Neymar xingando torcedores viraliza
Was bleibt?
Der große Teil des brasilianischen Publikums erwartet immer Topleistungen, denen die nicht minder stolzere Seleção in den vergangenen Jahren kaum gerecht werden konnte – bis Neymar am Samstag das erste Tor per Freistoß erzielte und dann im Elferschießen besagten Ball im gegnerischen Kasten unterbringen konnte. Lange Zeit als Youtube-Star oder “Justin Bieber des Fußballs” seitens der europäischen Fußball-Experten verpönt, ist spätestens seit Rio klar, dass der 24-Jährige ein Meister darin ist, seinen Kritikern den Zeigefinger auf die Lippen zu legen. Auch, dass er kein Kapitän mehr sein will, hat er bereits angekündigt. Nach dem Elfer flossen die Tränen sofort in Strömen. Und so kann man Neymars Aussage, es würde kein zu großer Druck auf ihm und seinen Mitspielern liegen, nur wenig Glauben schenken.
In der Stadt Gottes werden wohl auch in naher Zukunft die Lobeshymnen noch lautstark durch die Sitzreihen des Marakanas rauschen und in den Wohnzimmern der nahegelegenen Favelas wiederhallen – zu mindestens solange, bis Neymar mal einen Elfmeter verschießt und Brasilien verliert.
Empfehlung: Hier könnt ihr euch den Werdegang von Neymar durchlesen.