Im Vorfeld der neuen Saison pries Präsident Josep Maria Bartomeu Youngster Gerard Deulofeu in den höchsten Tönen. Er sei bereit für eine Rückkehr zum FC Barcelona und werde Teil der Mannschaft sein, die den Verein in eine neue Ära führen wird. Diese Pläne gehören nun vorläufig der Geschichte an: Gänzlich unerwartet wechselt der Stürmer leihweise zum FC Sevilla und lässt große Fragezeichen zurück. Was hat es mit der erneuten Leihe des Supertalents auf sich?
Gerard Deulofeu gilt als das kommende Supertalent beim FC Barcelona. Kaum einer vereint Technik und Dynamik so kunstvoll wie der 20-jährige La-Masia-Absolvent. In England sollte er sich die nötige Härte aneignen, um eine Saison später auch in der ersten Mannschaft von Barça triumphieren und zu einem großen Spieler heranreifen zu können. Zu Beginn der Saisonvorbereitung schien er auch auf einem guten Weg, den hohen Erwartungen an seine Person entsprechen zu können – bis seine Spielanteile abnahmen und ehe man sich versah, war er Spieler des Konkurrenten aus Sevilla.
Warum wurde Deulofeu weggegeben?
Man tut sich einigermaßen schwer damit, den Hintergründen dieses Wechsels auf die Schliche zu kommen. In den Vorbereitungsspielen hat Deulofeu einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Lob hat er sich für seinen Offensivdrang und seinen Zug zum Tor verdient; hier liegt zweifellos seine Stärke. Dem stehen allerdings Defizite in der Rückwärtsbewegung und im Pressing gegenüber, die Zweifel darüber aufkommen lassen, ob das Sturmtalent den Anforderungen des Liga-Alltags und erst recht den internationalen Aufgaben gewachsen ist. Noch nicht verblasst ist die Szene, als Luis Enrique sich heftig über die mangelnde Teilnahme von Deulofeu am Offensivpressing echauffierte und sodann seine defensive Intensität rügte. Diesbezüglich hat er noch sehr viel Luft nach oben.
Ein Beispiel von vielen für Deulofeus mangelnde Defensivarbeit
Gerade in diesem Bereich hat Munir El Haddadi geglänzt. Vielleicht hat Munir noch nicht ganz die offensive Klasse von Deulofeu. Was dem 18-jährigen Gewinner der UEFA Youth League zum vermeintlich größten Talent des FC Barcelona fehlte, machte er vielfach durch sein ausgezeichnetes Pressing und seine wohlüberlegten Laufwege wett. Er presste die Gegner mit einer Intensität, die für einen Jungen seines Alters erstaunlich war und etablierte Varianten des Offensivpressings, die beim FC Barcelona in der letzten Saison nicht zu sehen waren. Mit anderen Worten: Er überstrahlte seinen Teamkameraden in einem Bereich, der Luis Enrique am Herzen liegt.
Im direkten Vergleich: Munir El Haddadi
Vier Stürmer für drei Positionen: Geht das gut?
Ob der gute Auftritt von Munir El Haddadi ein die Entscheidung tragender Grund ist, Deulofeu nach Sevilla zu verleihen, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Es ist schwer vorstellbar, dass Luis Enrique mit einem 18-jährigen, zukünftigen Hoffnungsträger aus der Barça B substantiierte Pläne für die neue Saison schmiedet. Munir wird nach seinen guten Leistungen sicher zu dem einen oder anderen Einsatz gegen unterklassige Gegner kommen und vielleicht Champions-Leaque-Luft schnuppern, sollte sich Barça frühzeitig für die nächste Runde qualifizieren – mehr steht für die kommende Saison kaum zu erwarten. Demnach stehen dem neuen Trainer für den Sturm lediglich vier Spieler zur Verfügung: Lionel Messi, Neymar Jr., Pedro und Suárez. Eine vernünftige Grundlage für Rotationen, zeitgleich aber ein Mangel, wenn man sich die letzten Spielzeiten vor Augen führt. Während einer langen, intensiven Saison sind Verletzungen die Regel, die Luis Enrique mit der dünnen Personaldecke im Sturm nur unzureichend abfangen können wird.
Oder hat der Coach des katalanischen Traditionsvereins Pläne, an denen er uns bisher nicht teilhaben lässt – Pläne mit Rafinha, dem Neuzugang aus Celta Vigo? In den bisherigen Testspielen verkörperte die große Mittelfeldhoffnung des FC Barcelona die Falsche Neun. Dies tat er mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit und interpretierte seine Rolle in einer Weise, die sich sehen lassen konnte. Permanent in Bewegung, war Rafinha Garant für lokale Überzahlsituationen und auch ein Meister darin, sich die Bälle von hinten abzuholen, indem er sich mit einer hohen läuferischen Intensität von der Bewachung seiner Gegenspieler löste. Nur dank ihm war es häufig möglich, sich aus den Fesseln des Gegners zu lösen und a. die Spielkontrolle wiederherzustellen oder b. schnelle Konter zu fahren. Beim Pressing tat er sich als Falsche Neun ebenso hervor wie als Spielgestalter aus der Tiefe.
Hat Rafinha den Trainer auf der Falschen Neun überzeugt?
Als Spielgestalter und vor dem Tor hat Lionel Messi selbstredend eine unerreichte Qualität. In allen anderen Punkten jedoch, die eine gute Falsche Neun auszeichnen, war Rafinha dem vierfachen Weltfußballer deutlich überlegen. Könnte Luis Enrique also mit dem Gedanken spielen, Rafinha auch in Zukunft des Öfteren auf der Falschen Neun aufzubieten? Die Antwort auf diese Frage ist sicher hochspekulativ; vor allem aber ist sie dahingehend interessant, wo Messis Rolle dann gesehen werden könnte. Er wird an vorderster Front nie den Druck erzeugen können wie Rafinha. Auch beim Laufpensum hat er keine Chance, mit dem Brasilianer mitzuhalten, der für das Offensivpressing prädestiniert zu sein scheint.
Gewiss ist nur, dass man Luis Enrqiue bei der Entscheidung, Gerard Deulofeu an Sevilla abzugeben, keine kurzsichtigen Motive unterstellen darf. Er wird wie jeder andere auch wissen, dass ihm nur vier Stürmer bleiben, um drei Sturmpositionen abzudecken. Und die Erfahrung hat ihn mit Bestimmtheit gelehrt, dass ein Stürmer eigentlich immer verletzt ist. Er konnte die Entscheidung über Deulofeus Zukunft somit nur treffen, weil er Pläne hat, die über unseren Kenntnisstand hinausgehen. Nach derzeitigem Stand streiten sich im Mittelfeld acht Spieler um drei Positionen, wenn man das klassische System zum Maßstab nimmt. Es riecht daher sehr nach einem taktischen Umdenken im Mittelfeld und im Angriff. Wir dürfen gespannt sein, was passiert, wenn Lionel Messi und vor allem auch Luis Suárez ins Geschehen einsteigen. Was die taktische Variabilität anbetrifft, scheint die Blaugrana in der kommenden Saison so gut gerüstet wie noch nie. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Abgang von Deulofeu also zu verkraften und mit Blick auf seine Defizite, die sich augenscheinlich nur schwer ausmerzen lassen, durchaus nachvollziehbar.
Eure Meinung: Seht ihr in dem Abgang von Deulofeu Vorboten neuer taktischer und personeller Ansätze?