Die Weltmeisterschaft in Brasilien könnte das letzte große Länderturnier von Xavi Hernández werden. Dort wird der Barça-Star alles daran setzen, um der glorreichen Geschichte der letzten sechs Jahre noch ein gewichtiges Kapitel anzufügen. Danach geht es für den 34-jährigen Mittelfeldstrategen zurück nach Barcelona, wo ihn ein neuer Trainer mit einer möglicherweise neuen Rolle erwartet, am liebsten am Rande des Geschehens, wenn es nach der Meinung vieler geht. Der Altmeister würde nichts mehr reißen, so das allgemeine Credo. Man sollte El Maestro aber nicht zu früh abschreiben: Seine Erfahrung und vor allem seine einzigartigen Anlagen könnten auch in Zukunft Gold wert sein.
Heutzutage gibt es wohl kaum einen Spieler mehr, den die Medien nicht zumindest einmal mit dem Prädikat Weltklasse versehen hätten. Vorschnell und losgelöst vom Benchmark im Profifußball werden Superlative bemüht, die verwässert und damit zunehmend entwertet werden. Wie will man also klarmachen, dass ein Spieler sich in eigenen, unerreichten Sphären bewegt? Am ehesten wohl mit der Feststellung, alle seine Handlungen hätten Hand und Fuß. Über viele Jahre hinweg konnte Xavi Hernández i Creus mit einer Handlungsqualität auf dem Platz aufwarten, die ihresgleichen suchte. Passquoten von 90-100 % waren auch in großen Spielen keine Seltenheit, Anmut und Eleganz seine Markenzeichen. Ästhetiker kamen voll auf ihre Kosten, Fotografen mussten nicht lange nach dem Goldenen Schnitt suchen – er war direkt vor ihren Linsen, wann immer El Maestro die Fäden im Mittelfeld zog. Gegner liefen reihenweise ins Leere, einer nach dem anderen, und konnten sich keinen Reim darauf bilden, wie er das macht, wie er den Ball auch in brenzligen, wenig durchschaubaren Situationen souverän behauptet; wie er bei einem mannschaftlichen Gebilde, das auf den ersten Blick geschlossen erschien, mit nur einem Pass eine Lücke aufzeigte, die sonst keiner ersehen konnte. Schnell war der Mythos vom 360-Grad-Blick geboren, Xavi hat auch hinten Augen, ja natürlich, das muss die Erklärung sein. Nein, es lag natürlich am Talent, harter Arbeit und mit jedem zusätzlichen Lebensjahr auch an der Erfahrung. Lange Zeit bildete Xavi dank seiner Anlagen den absoluten Benchmark im Mittelfeld – er war das Herz des Barça-Spiels und führte seinen Verein und die Nationalmannschaft Spaniens von einem Titel zum anderen.
Was kann Xavi der Mannschaft noch geben?
Der ihn umgebende Ruhm und die Anerkennung für die Leistungen der Vergangenheit werden aber weniger. Sie verglühen wie ein kleiner Komet, der mit hoher Geschwindigkeit in die Erdatmosphäre eindringt und in seine Einzelteile zerfällt. Xavi bewegt sich mit hohem Tempo auf das Ende seiner Karriere zu und ist nach einhelliger Meinung bereits über seinen Zenit hinaus. Die Geschmeidigkeit der letzten Jahre ist etwas abhanden gekommen und mit ihr der Erfolg des FC Barcelona. „Wo bleibt der finale Ball?”, hat sich der ein oder andere sicher in der jüngsten Vergangenheit gefragt. Wie oft hat er den durchstartenden Kameraden umsonst laufen lassen, wie viele Male hat er Kehrt gemacht, als eine Beschleunigung des Spiels geboten erschien? Und dann die defensiven Probleme: Die Rückwärtsbewegung war noch nie seine große Stärke, zusammen mit der fehlenden Antrittsintensität ein Manko im offensiv ausgelegten Spiel von Barça. Selbst in der geordneten 4-1-4-1-Defensivformation gelingt es dem Verein nicht, den Gegner auf Distanz zu halten. Hieran ist Xavi nicht alleine verantwortlich, aber er trägt eine nicht von der Hand zu weisende Mitschuld, die durch sein unmittelbares Umfeld noch stärker ins Gewicht fällt.
Der Wunsch nach neuen Impulsen im Mittelfeld ist groß, Xavi wird mittlerweile als Belastung wahrgenommen, nicht nur sportlich, sondern bedingt durch seine Stellung im Verein auch menschlich. Wer soll sich dem großen Kapitän schon widersetzen? Mit der Verpflichtung von Luis Enrique änderte sich die Ausgangslage aber schlagartig. Die Medien berichteten über ein Treffen zwischen Trainer und Spieler, bei dem Letzterer seine zukünftige Rolle abklären wollte. Für viele ein schöner Nährboden im Hinblick auf das seit langem geforderte Leistungsprinzip. Wer spielen will, muss Leistung bringen. Also nicht Xavi, denn seine Glanzzeit sei schon längst vorbei. Entspricht diese Aussage der Wahrheit? Wo ist er am besten aufgehoben und was kann er der Mannschaft noch geben?
Nur eine taktische Waffe – oder doch mehr?
Vielleicht mehr, als gemeinhin vermutet wird. Es mag zutreffen, dass er seine besten Tage bereits gesehen hat, aus fußballerischer Sicht. Xavis Spiel hat Schwächen, die mit den Jahren immer mehr zum Vorschein gekommen sind, weil der Fußball einer stetigen Wandlung unterworfen ist. Trotz seines fortgeschrittenen Alters ist es ihm andererseits aber auch gelungen, viele seiner Stärken zu konservieren. Es wird auch in der kommenden Saison das wichtige Spiel, die entscheidende Spielsituation kommen, die nach Spielkontrolle und Ruhe verlangt. Wer wäre für die Beruhigung einer Partie besser geeignet als Xavi, mit seinen Finten, seiner Übersicht und der einzigartigen Intuition, die jeden Gegner an den Rand der Verzweiflung treibt. Als taktische Waffe ist der in Verruf gekommene Mittelfeldstratege eine sehr große Bereicherung für den katalanischen Traditionsverein.
In dieser Saison war häufig die Rede davon, dass dem FC Barcelona Optionen fehlen würden. Umso breiter sollte sich der Verein in der nächsten Saison aufstellen, um für alle möglichen Herausforderungen gewappnet zu sein. Als Trainer kann man sich glücklich schätzen, solche Spieler parat zu haben, wenn es die Situation erfordert. Doch würde sich Xavi damit abfinden, nur eine Option zu sein? Das klärende Gespräch mit Luis Enrique verlief dem Anschein nach jedenfalls zur Zufriedenheit des Kapitäns. Der neue Coach wird ihm mit Gewissheit keine Stammplatzgarantie eingeräumt haben – er scheint ein Mann der Jugend zu sein und die Defizite der Mannschaft zu kennen. Wiederkehrenden Berichten zufolge sei die Verpflichtung eines Mittelfeldspielers in Planung, womöglich sogar abgeschlossen, wenn sich die Gerüchte um Ivan Rakitic bewahrheiten sollten. Daneben bringt Luis Enrique auch noch Rafinha Alcántara von Celta mit, der unter seiner Führung einen großen Sprung nach vorne gemacht hat und zu den Leistungsträgern in der Mannschaft zählte. Das sind deutliche Signale dahingehend, dass es im Mittelfeld demnächst etwas bunter zugehen wird. Sergi Roberto nicht zu vergessen, der schon auf dem Absprung war und nach einer Unterredung mit Enrique nun doch in Barcelona verbleibt. Alles in allem muss sich Xavi also auf reichlich Gegenwind einstellen und auf einen Trainer, der das Schiff wieder in die richtige Richtung befördern will. Blankoschecks in Form von Einsatzgarantien sind mit diesem Vorhaben unvereinbar, Luis Enrique wird Xavi aber das Gefühl vermittelt haben, dass er ein wichtiges Puzzlestück in seinen Plänen sein wird – und genau diese Bestätigung benötigte Xavi, bevor er die neue Saison in Barcelona in Angriff nimmt.
Luis Enrique steht eine große Aufgabe bevor
Die Bedeutung des Mittelfeldstars für die Mannschaft könnte sogar größer sein, als man sich derzeit denken kann. Vielleicht wird er mehr sein als ‘nur’ der Mann für besondere Spielsituationen. Luis Enrique ist ein Trainer mit Ideen und Visionen, das war bei seiner ersten Pressekonferenz als Barça-Trainer unverkennbar. Wenn es ihm gelingt, die Stärken von Xavi auf den Rasen zu bringen und seine Schwächen durch taktische oder personelle Maßnahmen zu kaschieren, dann hat er als Trainer hervorragende Arbeit geleistet. Dann ist Xavi nicht nur die Vergangenheit, sondern gleichsam Teil der Zukunft. Das muss der Anspruch von Enrique sein, und er muss den Regisseur dazu bringen, seine Erfahrung an die jüngere Generation zu transferieren, damit auch die Jugend erkennt, wie problematische Situationen auf dem Platz am besten zu lösen sind. Bisweilen hatte man nämlich den Eindruck, als würde sich Xavi an seine unangefochtene Position in der Mannschaft klammern und sie gegenüber den Trainern durchsetzen. Mit einer höheren personellen Vielfalt im Mittelfeld kehren aber ganz andere Verhältnisse ein, die auch bei ihm zu einem Umdenken führen müssen. Xavi muss seine Rolle ernst und darf sich selbst nicht zu wichtig nehmen. Bereits die Unterhaltung mit Enrique könnte allerdings ein Indiz für eine von Demut getragene Gesinnung sein.
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