„Was wir in den letzten 10-12 Jahren geschafft haben, ist unglaublich“. Der Kapitän des FC Barcelona, Andrés Iniesta, hat sich mit der katalanischen Tageszeitung El Periódico zusammengesetzt, um über die abgelaufene Saison und die aufkommende Europameisterschaft zu sprechen. Der in Fuentealbilla geborene Mittelfeld-Star gab überdies umfassende Einblicke in die Mannschaftsleistung der zurückliegenden Saison und brachte auch seinen persönlichen Werdegang und seine Rolle im Team der Blaugrana mit ins Gespräch.
Außerdem appellierte der spanische Routinier an die Wertschätzung der Vereinserfolge aus der vergangenen Dekade. Barças Nummer 8, der gemeinsam mit Messi, Piqué und Xavi bereits 4 Mal die Champions League gewinnen konnte, gilt seit einigen Jahren im allgemeinen Presse-Tenor als komplettester Spieler der spanischen Nationalmannschaft. Im Star-Talk enthüllt Iniesta, wie er es auch heuer auf dem Rasenplatz vermag, sich aus jeder noch so brenzligen Spielsituation zu befreien. Unserer Meinung nach bestätigt Andrés Iniesta das Image einer vorbildhaften Identifikationsfigur, die die katalanische Philosophie heute wie kein Zweiter verkörpert und auch im Trikot der Furia Roja Ton und Takt vorgibt: Die Kollegen von El Periódico trafen einen geerdeten, stolzen und selbst reflektierten 32-Jährigen Bub an, der bislang in seinem Leben so gut wie jeden Pokal in die Lüfte strecken durfte, aber auch im Jahr 2016 weiterhin Heißhunger auf mehr Erfolge hat. Nachfolgend haben wir das vollständige Interview für euch ins Deutsche übersetzt. Seht selbst.
Es war ein großartiges Ende einer Saison. Du hast sie mit einer guten Form beendet.
Es ist ein tolles Gefühl, mit dem man direkt nach dem letzten Spiel, dem Finale, konfrontiert wird. Allerdings denke ich, dass es die gesamte Saison betrifft. Auch abseits der Zahlen und Fakten habe ich mich sehr gut gefühlt, gespielt, wie ich spielen wollte und es genossen, ein Fußballer zu sein. Das ist die Befriedigung, wenn du raus auf das Spielfeld gehst und dich die Dinge, die du tust, begnügen. Wenn ich in die Zukunft schaue, ist das gleichzeitig ein Gefühl, welches mich in Bezug auf die kommende Saison sehr optimistisch stimmt.
Würdest du sagen, dass Selbstbewusstsein etwas ist, was du bewusst wahrnimmst und woran du arbeitest?
Wenn ich das Spielfeld betrete, weiß ich bereits vorab mehr oder weniger was mich erwartet und wie der Fußball verläuft. Du weißt bereits, wie schnell und wachsam du bist. Während des Spieles können manche Dinge variieren, deswegen achte ich sehr stark auf meine Emotionen. Du beginnst vorab alles zu visualisieren und das schließt auch den Tag vor dem Match nicht aus. Das ist etwas, was ich über die Zeit gelernt und eingeprägt habe, etwas, was du versuchst zu kontrollieren.
Du befindest dich sehr konstant auf dem höchsten Level.
Ja, so sieht meine Vorstellung aus. Am Ende ist es eine Ansammlung von Situationen, die Dynamik des Teams und der Trainer, der immer darauf achtet, wie es uns geht und sich um uns kümmert. Ich denke, dass er das nicht aufgrund meines Alters tut – denn ich habe nicht das Gefühl, dass ich alt oder sehr müde bin – allerdings hat er mir in vielen Phasen geholfen. Es war notwendig, denn um Leistung bringen zu können, musst du vollkommen fit sein.
Im Pokalfinale hattest du ein paar magische Momente. Selbst per Zeitlupe ist es nicht nachvollziehbar, was du in einigen Spielzügen angestellt hast. Ist das eine reine Kopfsache? Oder handelt es sich da um Instinkt?
Nein, so bin ich nun mal. Das sind meine Qualitäten. Als Fußballer bin ich für solche Dinge verantwortlich und mit der Zeit habe ich diese auch verbessert. Ich bin, wer ich bin, nicht besser oder schlechter als andere. Ich mache viele Dinge, ohne darüber nachzudenken. Im Fußball gibt es fast keine Zeit, um nachzudenken, deswegen arbeitet der Verstand sehr schnell während eines Spieles. Ich glaube ohne das Nachdenken tust du Dinge, die manchmal funktionieren und manchmal eben nicht. Im Finale war es vonnöten, dass die Spieler mit mehr Erfahrung diese Verantwortung an sich reißen, da wir uns in einer sehr schwierigen Situation befanden.
Manchmal sieht es so aus, als würdest du nicht laufen, obwohl du mehr als der Rest läufst …
Nun, das Gefühl auf dem Spielfeld ist anders, als wenn du es von außen wahrnimmst. Wenn du es beobachtest, sind die Bewegungen nicht aggressiv, sondern eher neutral, vielleicht täuscht das deine Wahrnehmung. Auf dem Spielfeld musst du dich sehr schnell bewegen. Ob ich mir meine eigenen Spiele im Nachhinein anschaue? Ja, natürlich.
Es gibt diese Spielsituation in der Nähe der Seitenauslinie, in dem es so aussieht, als hättest du keinen Ausweg. Du bist eingekesselt und umgeben von Gegnern und findest dennoch einen einfachen Weg heraus …
Nun, wenn ich das tue, dann untersuche ich zunächst, was um mich herum passiert. Selbst wenn ich auf den Ball schaue, registriere ich die Bewegungen der Gegenspieler. In dieser konkreten Situation gehe ich bis zur Linie, trete auf den Ball, sodass der Sevilla-Spieler denkt, dass ich in die eine Richtung gehen würde. Ich nehme wahr, dass er dann eine bestimmte Bewegung machen wird, und entscheide mich selbst für die andere Richtung. Jeder von uns hat sein eigenes Potenzial. Aber am Ende ist derjenige, der den Ball dominiert, derjenige, der die Kontrolle besitzt.
Es gab einen Moment, als die Leute gesagt haben, dass du nicht gut genug für Barça wärst …
Ich weiß nicht, wie viele Leute so darüber gedacht haben, aber ich habe es mitbekommen, besonders in der letzten Saison. Alle Veränderungen fordern nun mal ihre Adaptionszeit. Ich weiß, dass wenn ich mich gut fühle, ich auch spielen werde. Ich kann 10 oder 12 Kilometer zurücklegen, aber ich denke, dass wenn ich ich selbst bin, dann kann ich in jedem System und in jeder Mannschaft spielen. Natürlich sind wir es hier gewohnt, alles als negativ zu betrachten, wenn die Dinge mal nicht funktionieren.
In den vergangenen Jahren haben viele Personen, die für dich und das Team wichtige und wertvolle Personen waren, den Verein verlassen: Puyol, Valdés, Xavi … Jetzt bist du der 1. Kapitän der Mannschaft.
Das ist der Lauf der Dinge. In einigen Jahren werde ich gehen und andere werden übrig bleiben. Barças Kapitän zu sein, macht mich sehr glücklich. Ich bin verantwortlich für viele Dinge, nicht nur mich selbst, sondern für was und wen ich repräsentiere. Das betrifft zunächst meine Teamkollegen. Es geht auch darum zu gewinnen, immer weiter zu gewinnen und den Wert aufrecht zu halten. Wenn wir nicht gewonnen hätten, dann wäre Iniesta ein katastrophaler Kapitän, der niemandem hilft und nicht den benötigten Charakter besitzt. Ich denke, so läuft das Ganze. Selbst in 200 Jahren wird es noch auf diese Art und Weise passieren. Von 10 Leuten können gerade einmal 2 oder 3 hinter die Fassade des aktuellen Momentums blicken, ohne sich auf das Ergebnis zu konzentrieren und stattdessen eine umfassende Einschätzung zu vollziehen.
Fühlst du dich mittlerweile wie ein besserer Spieler?
Ich fühle mich nicht besser, aber anders. Ich weiß nicht, ob man das als „kompletter“ bezeichnen kann. Vielleicht habe ich in der Rolle eines Mittelfeldspielers mittlerweile mehr die Aufgabe, zu helfen. Ich habe mehr Einfluss auf das Spiel und helfe dabei, den Ball von hinten nach vorne zu tragen. Ich habe nie die Essenz verloren, die mein Spiel charakterisiert hat, mein Markenzeichen. Wenn ich nur den einen Teil verinnerlicht und den anderen verloren hätte – ohne meine Eins-gegen-Eins-Situationen – würde ich mich nicht so vollkommen fühlen, wie ich es jetzt tue. Etwas würde fehlen.
Das wirst du nie verlieren.
Naja, vielleicht wenn ich 35-36 Jahre alt bin, da bin ich mir nicht so sicher (lacht). Was mich glücklich macht, ist zu wissen, dass ich immer noch ich selbst bin und mich kein System oder Spielstil verändert hat. Ich habe mittlerweile andere Perspektiven, aber ich bin immer noch ich.
Wenn du dir deine ganzen Errungenschaften anschaust, wird dir dann nicht schwindelig? Wenn dir jemand vor 10 Jahren gesagt hätte, was du alles gewinnen wirst …
Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich weiß nicht, wie die Leute es wahrnehmen, denn ich kann ihren Stolz nicht messen. Ich bemerke ihre Freude, wenn ich ihre Feierlichkeiten sehe. Aber so etwas wird nie wieder passieren. Ich hoffe natürlich, dass es das tut, aber was wir in den letzten 10-12 Jahren geschafft haben, ist unglaublich, unkalkulierbar, da es sonst kein Team der Welt geschafft hat. Was dich etwas kraftlos macht, sind die Momente, in denen es so wirkt, als würde das alles nicht genügend geschätzt werden. Niemand sonst hat zwei Mal das Triple innerhalb von 6 Jahren geholt. Manchmal sitze ich zu Hause und denke: „Das ist unglaublich, das kann nicht wahr sein, das gibt es nicht“.
Es ist einfach den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, zu vergegenwärtigen, dass du bereits alles gewonnen hast …
Es ist so, dass wir die Titel über einen sehr langen Zeitraum gewonnen haben. Das ist nicht einfach im Sport. Im Endeffekt treibt dich die Leidenschaft für den Fußball an, das hält dich am Laufen. Du willst immer das Beste für den Klub, für deine Familie und für dich selbst. Für mich ist das die beste Ära der Welt. Es ist ein Privileg und ein Grund stolz darauf zu sein, in dieser Zeit und diesem Lebensmoment gelandet zu sein. Mit diesem Team und diesen Spielern … Es gibt nichts Besseres. Deinen Job zu erledigen, von der ganzen Welt beachtet zu werden, von Menschen angesprochen zu werden, die dir sagen „Danke, für das, was du tust“ – Das ist unbezahlbar. Es geht nicht um die Sachen, die wir heute immer gefragt werden: „Was bevorzugst du, die Champions League oder das Double?“ Es geht nicht darum, sich für eines der beiden Dinge zu entscheiden oder welcher Titel mehr Wert hat. Es geht dabei um den Fakt, dass Barça 6 der letzten 8 möglichen Titel gewonnen hat. Dagegen kann niemand etwas sagen oder es vergleichen, weil es einfach brutal ist. Ich wundere mich darüber, dass es immer wieder Leute gibt, die das nicht nachvollziehen können. Und das unabhängig davon, welches Team sie unterstützen.
Wenn Madrid das geschafft hätte, würde uns das stören, aber wir müssten es wahrnehmen und akzeptieren. Egal welches Team das geschafft hätte, es bleibt wahnsinnig.
Und jetzt die EM. Ist es einfach, den Schalter umzulegen? Bist du nicht satt?
Wir sind es gewohnt. Wir hatten ein paar Urlaubstage und haben jetzt einen freien Kopf. Außerdem ist es gut, dass es sich um ein anderes Team mit einer anderen Dynamik und einem anderen Umfeld handelt. Wir haben eine schöne Aufgabe vor uns.
Ebenso wie Barças Zyklus außergewöhnlich ist, hat das Nationalteam Geschichte geschrieben. Du kannst etwas schaffen, was zuvor niemand geschafft hat: Drei Europameisterschaften zu gewinnen.
Was wir bei Barça erlebt haben, hat einen großen Einfluss auf die Erfolge mit der Nationalmannschaft gehabt. Alles begann mit Luis Aragonés, der die Fußballmentalität und die Spieleranforderungen verändert hat. Ich denke, dass wir immer noch ein sehr gutes Team haben. Wenn wir unsere Sache gut machen, sind wir niemandem unterlegen. Wir werden da sein und für die Trophäe kämpfen. Wenn wir die Dinge aber so angehen wie bei der WM, wo es so wirkte, als hätten wir bereits vor dem Spiel gewonnen, dann ist es irrelevant, was für ein Team du hast.
Lastet die Erinnerung an Brasilien auf euch?
Es lastet nicht auf uns, aber es ist präsent. Brasilien hat uns gut getan, denn es hat uns gelehrt, ruhiger zu werden, in dem Sinne, dass du es Schritt für Schritt angehen musst. Es bleibt eine positive Warnung, die wir im Hinterkopf behalten. Es hilft dir dich nicht auf alles zu verlassen und zu wissen, dass alles schwer sein kann. Die Gruppe in der wir spielen ist sehr stark, mit drei Mannschaften, die sich auf einem ähnlichen Niveau befinden. Wenn du da nicht 100 Prozent in allem gibst, wird dich der Gegner mit Sicherheit besiegen.
Hast du dir für die EM ein besonderes Tor aufgespart?
Das weiß man nie. Das Schicksal wird entscheiden. Aber es ist auch egal, wer trifft. Die Tore gehören allen.
Iniestas sportliche Leistung im Jahr 2016 bringt folgendes Video auf den Punkt:
https://www.youtube.com/watch?v=1dRf7qCtxU0