Kennern wird der Name Paco Jémez mittlerweile ein klarer Begriff sein. Der Trainer fiel in seinen mittlerweile zweieinhalb Jahren bei Rayo Vallecano mit einer mutigen, offensiven Spielweise und unbekehrbaren Philosophie auf, die er auch nach haushohen Niederlagen nie in Frage stellte. Der Kanarier wird von den Fans geliebt, klaute dem FC Barcelona 2013 erstmals seit fünf Jahren den Ballbesitz und wird teils sogar als Kandidat gesehen, eines Tages das Traineramt bei Barça zu übernehmen. Wer also ist dieser Mann?
Vorweg soll gesagt sein, dass dieser Artikel in keiner Weise als Forderung nach einem neuen Trainer verstanden werden sollte. Vielmehr wollen wir einen tieferen Einblick in die Welt eines noch unbekannten, jedoch sehr interessanten Trainers bieten.
Von „Super Depor“ zu Rayo Vallecano
Als Spieler erlebte Paco Jémez seine erfolgreichste Zeit in den fünf Jahren bei Deportivo La Coruña, als der Verein auf seinem Höhepunkt war und den Spitznamen „Super Depor“ trug, gefolgt von sechs weiteren bei Real Zaragoza. In dieser Zeit konnte der beidfüßige Innenverteidiger dreimal die Copa del Rey gewinnen und einmal die Supercopa de España. Eingerahmt wurden diese elf Jahre von jeweils einer Spielzeit bei Rayo Vallecano. Der 21-fache Nationalspieler ließ seine Karriere 2006 schließlich ausklingen und begann als Trainer zu arbeiten.
Paco Jeméz‘ Spielphilosophie sollte dabei nicht durchweg von Erfolgen begleitet sein, bei unterklassigen Vereinen zeigte er aber früh seine Vorzüge als Trainer. In seiner ersten Saison 2006/07 erweckte Paco erstmals Aufmerksamkeit, als er in der Tercera División mit der RSD Alcalá Meister wurde. Mit dem FC Cartagena schaffte er 2009 zudem als Meister den Aufstieg in die Segunda División. Erfolglos war er dagegen bei den Zweitligisten FC Córdoba und UD Las Palmas, die ihn beide wegen schlechter Resultate entließen. Nachdem der Kanarier ein zweites Mal bei Córdoba sein Glück versuchen durfte und in den Playoffs knapp am Aufstieg scheiterte, holte ihn 2012 schließlich Rayo Vallecano ins Boot. Mit einem Mini-Etat erreichten die Vallecas in der ersten Saison Platz acht und konnten nur aus finanztechnischen Gründen nicht an der Europa League teilnehmen. Ein 12. Platz im Folgejahr kann ebenfalls als Erfolg für den kleinen Verein gewertet werden.
Nur wodurch kommen die guten Leistungen der Truppe von Paco Jémez genau zustande? Mit einem Budget um die sieben Millionen Euro geht Rayo Vallecano jährlich in die neue Saison – nur die SD Eibar kann das unterbieten. Etwa der halbe Kader muss jede Saison erneuert werden, da viele Spieler den Verein verlassen. Ersatz dafür kann nur durch ablösefreie Spieler oder Leihen geschaffen werden – und die müssen auch noch ins System passen. Keine leichte Aufgabe, unter diesen Bedingungen eine funktionierende Mannschaft zu formen. Von dieser fordert Paco auch noch eine ganz bestimmte, extreme und auf seine Art und Weise einzigartige Spielweise, die er auch nach deftigen Niederlagen in keiner Weise in Frage stellt. Auf diese wollen wir nun erst einmal einen kurzen, allgemeinen Blick werfen.
Das ‚System Paco‘
Die beiden Grundpfeiler im ‚System Paco‘ sind Ballbesitz und Pressing, welche den Grundgedanken tragen, dass Spiel auf die eigene Art zu gestalten und zu dominieren. Ganz richtig, obschon die Klasse der Spieler meist hinter der des Gegners zurückbleibt, soll Rayo immer die dominierende Mannschaft sein. Wer erinnert sich nicht an den September 2013, in dem Vallecano 51% Ballbesitz gegen den FC Barcelona hatte? Der 4:0-Sieg der Katalanen geriet dabei zur Nebensache, alle waren nur in hellem Aufruhr, dass der kleine Madrider-Klub dem großen FC Barcelona die Platzhoheit abnahm. In Paco Jémez‘ erstem Jahr hatte in Europa neben Barça nur der FC Bayern mehr Ballbesitz als Rayo Vallecano. Meist stehen um die 60% Spielanteile zu Buche.
Ohne das aggressive Offensivpressing wäre so etwas niemals möglich. Rayo presst früh, aggressiv und das nahezu über 90 Minuten hinweg. Wenn der Ball nicht im Besitz der Vallecas ist, soll sich das so schnell wie möglich ändern. Schon beim Abstoß des Gegners werden in der Regel beide Innenverteidiger zugestellt, um damit einen langen Ball zu provozieren, was im besten Fall zu einem Ballgewinn führt. Alternativ wird sofort aggressiv auf den zweiten Ball gepresst. Bemerkenswert ist die enorme defensive Fluidität der Spieler. Die Grundausrichtung ist auf dem Papier ein 4-3-3 (bei Rückstand alternativ ein 3-4-3), heute meist mit zwei defensiven Mittelfeldspielern, doch während des Spiels bilden sich aber immer wieder die verschiedenste Ausrichtungen. Der Stürmer wird im rückwärtigen Pressing aktiv und im Gegenzug rücken nicht selten mehrere Mittelfeldspieler bis zu dem zentralen Stürmer auf, um den Druck auf den Gegner höchstmöglich zu halten. Auch der ballnahe Außenverteidiger muss die Gegner auf seiner Seite aktiv angehen, wodurch sich wiederum die Innenverteidiger in die gleiche Richtung verschieben müssen. Im Grunde genommen sollen immer so viele Spieler wie möglich in der Nähe des Ballführenden platziert werden, um durch die dabei entstehende Kompaktheit alle Abspielmöglichkeiten zu zerstören.
Gefährlich ist das allemal: Gelingt es, das Pressing zu umspielen, sind große Räume für den Gegner offen. Unausweichlich ist deshalb eine Kompensation durch eine hohe Verteidigungslinie, die sich nicht nur im Eins-Gegen-Eins verstehen, sondern auch die Abseitsfalle perfekt anwenden muss. Neben der eigentlichen Raumverteidigung entstehen auch immer wieder partielle Manndeckungen, je nachdem, was die Situation gerade mit sich bringt. Eine solche Fluidität in der Verteidigung gibt es vermutlich bei keiner anderen Mannschaft.
Paco: „Der Stürmer muss der erste Verteidiger und der Torhüter muss der erste Angreifer sein“
Auch im Ballbesitz sind die Spieler ständig in Bewegung und agieren wie auch in der Defensive extrem fluide. Pep Guardiola meinte kürzlich, dass Bayern, Barça und Rayo die einzigen drei Teams auf der Welt sind, die das Positionsspiel beherrschen, wie es nach seiner Vorstellung ideal ist. Auf Ballbesitz orientiert, bieten sich dabei immer genügend Anspielstationen, um die eigenen Passstafetten durchführen zu können. Schon zu Spielerzeiten schien Jémez das ballbesitzorientierte Kurzpassspiel zu lieben: „Wenn der Trainer wollte, dass ich einen langen Ball spiele, habe ich das verdammt noch mal gehasst. Was ich wollte, war, Fußball zu spielen.“ Auch der Torhüter – wie ist es anders denkbar – nimmt sehr aktiv am Spiel seiner Mannschaft teil. „Der Stürmer muss der erste Verteidiger und der Torhüter muss der erste Angreifer sein“, so Pacos klare Anweisung. Im Angriff werden häufig Überzahlsituationen hergestellt, sehr gern auch auf den Flügeln. Mittefeldspieler übernehmen Stürmerrollen, Verteidiger müssen die Mittelfeldspieler ersetzen. Die hohe Spielerpositionierung ist natürlich wieder sehr riskant und anfällig gegenüber individuellen Fehlern, aus denen Konter resultieren. Ein schnelles Gegenpressing bei Ballverlust ist daher Standard. Trotz des Fokus auf Ballbesitz verfügt Rayo auch über eine Palette an schnellen, direkten Kontern, wenn sich dazu die Möglichkeit ergibt.
Nicht in die taktische Schiene hineinpressen kann man die mentale Einstellung, die Paco Jémez seinen Schützlingen mit auf den Weg gibt. Das ist zum einen der unbedingte Siegeswille. Wo andere das Unentschieden halten wollen, geht Rayo weiter auf Sieg. Bei hohen Rückständen wird nicht aufgegeben, sondern trotzdem versucht, das Spiel noch zu drehen: „Die einzige Zufriedenheit, die man aus einer Niederlage ziehen kann, ist, dass man alles dafür getan hat, zu gewinnen.“ Weiterhin versucht Rayo nicht nur zu gewinnen, sie wollen dabei dominieren. Das alles birgt den netten Nebeneffekt, dass Niederlagen auf diese Weise von den Fans weniger kritisch gesehen werden als bei defensiver Herangehensweise. Die Spieler kämpfen, sind mit Herz und Seele auf dem Feld, unterstützen einander und geben alles für die Mannschaft: „Ich möchte ein Team sehen, welches nach Blut lechzt und nicht aufhören kann, nach diesem Blut zu suchen.“
Der schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn
Dennoch gibt es Kritiker, die die Taktik gerade gegen deutlich bessere Mannschaften für wahnsinnig, ja fast schon suizidal halten. Nicht selten hagelte es förmlich Tore gegen Gegner wie Barcelona, Atlético oder Real. Doch auch nach solchen Niederlagen bleibt Paco Jémez von der von ihm geforderten Spielweise überzeugt. Man muss ihm zugestehen, dass ein übermäßiger Anteil an Gegentreffern individuellen Fehlern geschuldet ist – nicht verwunderlich bei einem verhältnismäßig schwachen Spielermaterial. Doch liegt das eigentlich Verrückte nicht gerade darin, dass man von den eigentlich Schwächeren fordert, sie sollen spielen, als seien sie die Stärkeren? „Es ist ein schmaler Grat zwischen Mut und Kühnheit“, das weiß auch Paco. Doch er glaubt, diesen Grad noch nie überschritten zu haben. „Es ist richtig, dass wir Risiken eingehen, die andere nicht eingehen. Wir sind mutig, aber nicht suizidal.“ Die breite Masse der Rayo-Fans steht derzeit zumindest hinter ihrem Trainer und der Art und Weise, wie die Mannschaft Fußball spielt. „In Zeiten der Krise geben Leute Geld aus, um uns spielen zu sehen. Das sehe ich als eine Bestätigung, weiter schönen Fußball zu spielen, warum zum Teufel sollten sie sonst Geld ausgeben?“, so der Kanarier selbst.
Paco Jémez: „Wir sind mutig, aber nicht suizidal“
Es ist nicht vorstellbar, dass Paco Jémez jemals von seiner offensiven Spielphilosophie abweichen wird. Nach einer 6:0-Niederlage gegen Barcelona wurde er nicht das erste Mal gefragt, ob eine defensivere Herangehensweise besser gewesen wäre: „Keine Ahnung, vielleicht hätten wir nur 3:0 verloren, vielleicht aber auch 9:0.“ „Jeder Verein, der mich verpflichtet, weiß, was er bekommt“, so Pacos Antwort bei einer anderen Gelegenheit. „Wenn Rayo anders spielen will, müssen sie sich einen anderen Trainer holen.“ Andere Antworten auf die Standardfragen sind: „Ich hatte nie vor, mit meinen Ideen zu sterben. Ich wollte immer mit meinen Ideen gewinnen, mit ihnen leben.“ Oder: „Man kann nicht jeden Tag alles ändern. Wenn wir das täten, wären wir heute nicht so stark. Wir haben nie darüber nachgedacht, unseren Kurs zu ändern. Ich würde es auf keine andere Weise versuchen.“
Lob von Tata Martino und Luis Enrique
Paco Jémez ist nicht nur ein Mann der großen und mutigen Ideen. Das allein würde Rayo nicht den derzeitigen Erfolg einbringen. Und seien wir ehrlich, für einen Verein dieser Größe ist jede Saison ein Erfolg, in welcher der Klassenerhalt in der Primera División erreicht wird. Er ist ein Motivator. Wenn man Paco an der Seitenlinie sieht, glaubt man fast, er würde sich am liebsten aufs Feld stellen und mitspielen. Doch das muss er nicht, denn er ist in der Lage, seinen Geist auf seine Spieler zu übertragen, damit diese ihn in die Tat umsetzen. So fest wie er seine Philosophie verteidigt, so klar und unzensiert spricht er auch mit der Presse. Ein Auszug nach einer 5:0-Niederlage gegen Atlético Madrid, auf die Frage, was zu verbessern ist: „Alles. Wir sind das kleinste Team in der Liga. Wir sind das größte Scheißteam. Es gibt 19 Mannschaften und danach kommen wir. Bis wir das nicht begreifen, werden wir weiter leiden.“ Wie Paco sich nach der Niederlage fühle? „So wie die Spieler: Peinlich berührt, gedemütigt und verletzt. Aber das haben wir verdient.“ Neben den Worten ist der Kanarier auch für sein striktes Handeln bekannt. Wer die Spielweise nicht verinnerlichen kann oder will, spielt nicht oder wird kurzerhand in der ersten Halbzeit ausgewechselt. „Manchen Spielern muss man zeigen, wer den Größten hat. Und hier habe ich den Größten.“
Luis Enrique: „Er ist mehr als nur bereit, um bei einem großen Klub anzuheuern“
Rückendeckung bekommt Paco Jémez von vielen Trainern anderer Vereine. Schon letztes Jahr sprach Tata Martino seine Bewunderung aus: „Paco Jémez scheint ein sehr mutiger Trainer zu sein. Ich bewundere alle Trainer, welche die Initiative ergreifen und kreativ spielen, vor allem wenn man nicht mit einem reichen Kader arbeiten kann. Er zeigt trotz der Tabellenkonstellation genug Charakter, um den gleichen Weg weiterzugehen. Paco Jémez ist ein Trainer, der von seinen eigenen Methoden überzeugt ist.“ In dieser Spielzeit kamen auch von Luis Enrique anerkennende Wort: „Paco Jémez hat seine eigene fußballerische Identität und ist in der Lage, diese auf die Spieler zu übertragen. Wir beide mögen die gleiche Art von Fußball. Er macht einen tollen Job und ich denke, er ist mehr als nur bereitet, um bei einem großen Klub anzuheuern.“ In einem Spiel gegen Real Madrid lag Rayo 3:0 zurück und erzielte kurz vor dem Ende fast noch den Ausgleich. Im Anschluss an die Partie mit einer heroischen Leistung des Außenseiters, bat Carlo Ancelotti Paco Jémez ernsthaft darum, einmal beim Training von Rayo Vallecano dabei sein zu dürfen. Ob ihm das gewährt wurde, ist uns leider nicht bekannt. „Unser Stil gibt uns gute Resultate und wir glauben an ihn“, bekräftigt auch Cristian Álvarez, was zeigt, wie sehr die Spieler hinter ihrem Stil stehen.
Bereit für den FC Barcelona?
Wie schon kurz erwähnt, wird Paco Jémez von dem ein oder anderen als geeigneter Trainer für den FC Barcelona gesehen. Nachdem der Abschied von Tata Martino klar war, galt er in den Medien sogar als ein Außenseiterkandidat für den Trainerstuhl. Am Ende wurde es Luis Enrique, doch hätte man mit Paco eine schlechtere Wahl getroffen? Diese Frage kann natürlich keiner beantworten. Ich persönlich halte ihn jedoch für geeignet, den FC Barcelona zu leiten. Nicht heute und nicht morgen, aber womöglich eines Tages. Bei den Katalanen hätte er einen stabilen Kader, über den er bisher nie verfügte und mit dem Camp Nou eine perfekte Spielstätte für seinen Stil. Pacos Spielweise überschneidet sich mit der Barcelonas zudem an vielen Stellen. Viele gute Voraussetzungen für einen Trainer, der schon mit einer kleinen Mannschaft die Herzen der Fußballfans entzücken kann.
Als Enrique ihn schon für einen größeren Verein bereit erklärte, ahnte er wohl noch nicht, dass die Zeichen bei Paco Jémez und Rayo Vallecano derzeit tatsächlich auf Abschied stehen. Der Vertrag des Kanariers läuft zum Saisonende hin aus, eine Verlängerung ist derzeit noch nicht in Sicht: „Ich bin sehr dankbar, was Rayo mir gegeben hat. Es war meine erste Chance für die Primera División. Jetzt bin ich in einer Position, in der ich mehr verlange und wenn sie das akzeptieren würden, wäre das großartig.“ Bis zum ersten Januar sollte die Verlängerung vonstattengehen, ansonsten halte Paco Ausschau nach einem anderen Verein. Dass Rayo Vallecano neben vielen Spielern im Sommer womöglich auch den Trainer verliert, wäre bitter für den Verein, aber ebenso ein verständlicher Schritt Pacos, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern.
Um den Einblick gebührend abzuschließen, habe ich mir ein Zitat aufgespart, welches die Mentalität des Paco Jémez widerspiegelt wie kein anderes: „Egal wie schlimm sie uns schlagen, wir werden immer wieder aufstehen.“