Pünktlich zum Rückspiel des Copa-del-Rey-Viertelfinals zwischen dem FC Barcelona und Atlético Madrid kommt der zweite Teil unseres Artikel-Doppels zu Diego ‘Cholo’ Simeone heraus. Der 44-Jährige stellt zweifelsohne das prägende Gesicht seiner madrilenischen Erfolgsmannschaft dar, konnte aber schon bei seinen früheren Teams mit einigen Besonderheiten herausstechen. Beginnend mit seinem ersten Klub, namentlich Racing Club, bis hin zu den ‘Colchoneros‘ zieht sich ein Element wie ein roter Faden durch die Trainerkarriere Simeones: die hervorragende Defensive seiner Mannschaften.
Hinweis: Die Artikel über Diego Simeone entstanden im Vorfeld einer anderen Begegnung zwischen Barça und Atlético. Sie wurden aus aktuellem Anlass wieder hervorgeholt.
Simeone begann seine Trainerkarriere beim abstiegsbedrohten Hauptstadtverein Racing Club und führte die Mannschaft in seinem ersten und auch einzigen Arbeitsjahr zum Klassenerhalt. Simeones 4-3-1-2 sollte Vorläufer und Rohkonstrukt für seine spätere Systemauslegung werden; dabei ist der einzige signifikante Unterschied lediglich, dass der Zehner hinter den beiden Stürmer zwischen den Halbräumen pendelte und sich auch für die zwei Viererketten im Defensivgebilde einordnete. Trotz dem Nicht-Abstieg wurde der Argentinier aus unbekannten Gründen entlassen und heuerte kurze Zeit später bei Estudiantes de la Plata an.
Bei Estudiantes zeichnete sich erstmals das spätere 4-4-2 von Simeones Mannschaften ab – sowohl was das Ballbesitzspiel als auch das das kollektive Defensivverhalten anbetraf. Allerdings waren die individuellen Fähigkeiten seiner damaligen Spieler qualitativ gesehen weit unter denen seiner jetzigen Atlético-Akteure anzuordnen. So gab es beispielweise einige Undiszipliniertheiten beim kompakten Verschieben beziehungsweise auch beim richtigen Übergeben der jeweiligen Manndeckungen an andere Mitspieler. Trotzdem konnte Simeone mit seiner Mannschaft einen von zwei Meistertiteln, die Trofeo Apertura, gewinnen. Am Ende der Saison wechselte ‘Cholo’ dann erneut zu einem argentinischen Spitzenklub, namentlich River Plate.
Die Zeit von Simeone bei River Plate war von Höhen und Tiefen geprägt. Nach dem Gewinn der zweiten argentinischen Meisterschaft, der Trofeo Clausura, schied die Mannschaft des Argentiniers in der Copa Sudamericana frühzeitig aus und kam anschließend in der Trofeo Apertura vom letzten Tabellenplatz nicht weg. Simeone wurde schlussendlich entlassen und heuerte bei San Lorenzo an. Im beiderseitigen Einvernehmen wurde das Vertragsverhältnis aber wieder kurz vor Ende der Spielzeit aufgelöst. ‘Cholo’ hatte darauf folgend im Jahre 2011 erstmals einen kurzen Gastauftritt in Europa bei Catania Calcio zu verbuchen, bevor er im Sommer des gleichen Jahres zum Racing Club zurückkehrte. Allerdings sollte auch dieser Aufenthalt nicht lange dauern, denn der Argentinier wechselte um den Jahreswechsel herum zum kriselnden Erstligisten der Primera División, namentlich Atlético Madrid.
Der Beginn einer madrilenischen Erfolgsära
Simeone wurde schließlich in der Winterpause der Saison 2011/12 als neuer Cheftrainer der ‘Colchoneros‘ vorgestellt. Da er in den letzten Jahren seine systematischen Vorstellungen kontinuierlich verbessern beziehungsweise mit weiteren Aspekten adaptieren konnte, dauerte es nicht lange, bis er seine Instruktionen relativ schnell in seine Spieler einfließen lassen konnte. Das damals sogar im Mittelfeld der Liga auffindbare Atlético Madrid erfuhr mit dem Argentinier einen richtigen Aufschwung und konnte sich am Ende der Saison sogar noch auf dem sehr guten fünften Endrang platzieren. Der Gewinn der Europa League war danach nur mehr das i-Tüpfelchen einer perfekten Rückrunde.
In den folgenden Spielzeiten baute sich Simeone ein richtiges mannschaftliches Konstrukt auf und feierte zunehmend mehr Erfolge mit den ‘Rojiblancos’. Die Saison 2012/13 brachte neben dem Gewinn des UEFA Supercups gegen den FC Chelsea auch noch den Triumph in der Copa del Rey gegen den Stadtrivalen Real Madrid, dem ersten seit 17 Jahren, als Atlético das Double bestehend aus Meisterschaft und Cup gewann und Simeone ebenso, damals allerdings als Spieler, eine wichtige Säule der Mannschaft war. Die letzte Saison brachte den unumstrittenen Durchbruch als Weltklasse-Trainer. Die Mannschaft des Argentiniers gewann in einem packenden Endspurt den Liga-Titel und verpasste den Champions-League-Triumph am Ende gänzlich knapp gegen Real Madrid.
Obwohl Atlético in diesen Jahren immer mit dem Verlust zahlreicher Topstars wie Kun Agüero, Radamel Falcao oder zuletzt auch Diego Costa zu kämpfen hatte, schaffte es Simeone seine Mannschaft stets auf einem imposanten Niveau zu halten. Zurückzuführen ist dies, neben einer guten Nachbesetzung von bestimmten Positionen, auf die taktische Auslegung Simeones, in der sich alle Spieler einer großen Maxime, nämlich der Erhaltung der eigenen defensiven Kompaktheit unterordnen müssen. Auf die Systematik dieser Kompaktheit und weiteren Aspekten in ‘Cholos’ Spiel wollen wir jetzt einmal einen genaueren Blick werfen.
Vom Halbraumfokus bis zur Halbraumvernachlässigung
Simeone richtete seine Mannschaften stets darauf aus, die strategisch wichtigen Zonen auf dem Feld zu kontrollieren, so auch die Halbräume. Obwohl das 4-4-2 in der heutigen Fußballwelt schon als veraltet gilt und mit zwei Sechsern sowie zwei Flügelspielern weder Zentrum noch Halbräume adäquat besetzt werden können, nutzte es Simeone trotzdem in fast allen Teams, die er übernommen hat. Selbstverständlich baute der Atlético-Trainer einige Anpassungen ein, um dieses System Erfolg bringend zu gestalten. Am konkreten Beispiel von Atlético Madrid wollen wir das einmal veranschaulichen.
Atléticos Mittelfeldkette bestand in den meisten der Spiele in dieser Saison aus den Personalien Arda-Tiago-Gabi-Koke. Während Gabi und Tiago als ‘normale’ Doppelsechs agieren und eher konservativ im Spielaufbau eingreifen, sieht die Sache bei Arda und Koke schon anders aus. Die beiden positionieren sich nicht wie normale Flügelspieler vermehrt am vorderen Flügel, sondern sind hauptsächlich in den Halbräumen aufzufinden. Während Koke tendenziell aufbauend im Spiel agiert – also sich abkippen lässt, um im Aufbauspiel Überzahl herzustellen – ist Arda viel tororientierter und positioniert sich weiter vorne. Somit ließe sich Atléticos Formation auf dem Spielfeld viel besser mit einem 4-2-2-2 beschreiben.
Als Breitengeber fungieren in diesen Fällen die Außenverteidiger, die allerdings auch diagonal in die Halbräume vordringen können und somit ihre Flügelspieler dazu zwingen, auf die Außen auszuweichen oder stärker ins Zentrum einzurücken. Als weitere Maßnahme positioniert sich auch noch einer der beiden abkippenden Stürmer beziehungsweise manchmal auch einer der beiden aufrückenden Sechser zusätzlich in den Zehner-Raum und bietet somit eine weitere Anspielstation, um das Zentrum des Spielfelds zu besetzen. Bei Kontern ist die Auslegung ähnlich wie bei dem Ballbesitzspiel. Dabei ist es einer der beiden Stürmer, der sich in bestimmte Zonen, zumeist sind es die Halbräume, abkippen lässt, als Anspielstation dient und Ablagen an seine Mitspieler verteilt.
Doch internationale Aufmerksamkeit erregte nicht das Spiel Atléticos mit dem Ball, sondern das gegen den Ball. Am besten beschreiben lässt sich das Pressing Atléticos als ein eher tieferes Mittelfeldpressing in einem kompakten 4-4-2. Dabei ist das erste Mittelfeldband sehr eng gestaffelt, während die defensive Viererkette breiter fungiert. Die Stürmer verhalten sich immer ballnah, das heißt, sie wahren die Kompaktheit ihrer Mannschaft, bis der Ball zu ihrer Spielfeldseite kommt und sie somit versuchen, den Ball nach außen zu verschieben. Wenn die ‘Rojiblancos‘ dies dann auch geschafft haben, entstehen interessante Muster in ihrem Defensivverhalten.
Wir erleben hier eine häufig anzutreffende und nun graphisch veranschaulichte Spielsituation im Defensivverhalten der ‘Colchoneros‘, nachdem sie ihre Gegner auf die Außen abgedrängt haben. Dabei stellt dieser eingeübte Automatismus, in Anbetracht der vorhin beschriebenen Halbraumfokussierung, eine kleine Paradoxie im Spiel Simeones dar. Der Außenverteidiger rückt etwas von seinen Innenverteidigern weg und sperrt dem Gegenspieler einen möglichen Passweg auf die Flügel zu. Der zentrale defensive Mittelfeldspieler rückt auf, während der Flügelspieler und der Stürmer sich fallen lassen und somit dafür sorgen, dass der Raum für den Gegenspieler unglaublich verengt ist.
Diese Situation ist insofern paradox, als dass die Madrilenen hierfür den Halbraum verwaist lassen und mit vier Spielern stark auf die Außen verschieben. Dieser wahre Vierer-Block sorgt zum einen dafür, dass dem Gegenspieler relativ schnell der Ball entnommen werden kann, und zum anderen können alle möglichen Passoptionen zugestellt werden. Sollte es dem Gegner aber trotzdem gelingen, den Ball zu einem durchstartenden Spieler in den Halbraum zu spielen, dann agiert der andere zentrale defensive Mittelfeldspieler sehr mannorientiert und verfolgt den Gegenspieler in diesen Raum hinein.
Zielorientiertes Training und Laufen bis in den Tod
Diese Form des Verteidigens verlangt ein außerordentlich hohes Laufpensum, das zum einen intensiv für die Physis und zum anderen auch für die mentalen Bereiche des Spielers ist. Sie erfordert eine sehr hohe Aufopferungsbereitschaft von den Akteuren auf dem Platz, um dieses ungeheure Pensum bewältigen zu können. Hierfür eignet sich Simeone perfekt, schafft er es doch immer wieder aufs Neue, seine Spieler maximal zu motivieren und ihnen den unbändigen Willen zum Sieg einzuflößen. Neben einem gesunden Konkurrenzkampf ist Simeone mit seiner sehr dominanten Führungsrolle ein Vorbildsymbol in der Mannschaft geworden. Dies hat zur Folge, dass die Spieler für ihren Teamchef an ihre absoluten Leistungsgrenzen gehen und in jedem Spiel alles aus sich herausholen.
Meine Spieler würden für mich sterben, denn sie haben keine Angst vor dem Tod – Diego Simeone
Neben der richtigen Einstellung versucht Simeone selbstverständlich auch im Training sein Verteidigungsmuster so gut es geht zu vermitteln. Dabei wird das Ballbesitzspiel mit einigen Rondo-Arten praktiziert. Das Geübte kann und sollte dann auch im folgenden Training für das Spiel gegen den Ball angewandt werden.
Das Verteidigen lässt Simeone auf eine ganz bestimmte Art und Weise trainieren. Dabei lautet die Ausgangssituation wie folgt: In einem limitierten Feld gibt es eine 7 gegen 7 Situation. Konkret befinden sich eine verteidigende Mannschaft mit 6 Feldspielern und einem Torwart sowie eine angreifende Mannschaft mit 7 reinen Feldspielern auf dem Platz. Wichtig zu wissen ist, dass das Spielfeld nochmals in Quadrate unterteilt ist, die die genaue Positionierung der eigenen Spieler festlegen. Dabei müssen sich die Spieler der verteidigenden Mannschaft zu Anfang in die zentralen Quadrate positionieren, wobei jedes Quadrat von mindestens einem Spieler abgedeckt sein muss. Das verbessert zum einen das Verständnis, die Abstände zu den Spielern richtig einzuhalten, und zum anderen können dadurch eventuell wichtige Zonen, die aus welchem Grund auch immer nicht besetzt sind, schnell übernommen werden.
Die angreifende Mannschaft erhält den Auftrag, hauptsächlich über die Außen zum Torerfolg zu kommen. Dabei gibt es einen Punkt, wenn man den Angriff über die Außen beginnt, zwei Punkte, wenn man über die Flügel durchbrechen und flanken kann und zum Schluss drei Punkte, falls man mit einer Flanke ein Tor erzielen konnte. Da sich die angreifende und verteidigende Mannschaft immer abwechseln, entsteht dadurch ein Wettbewerb, bei dem der Sieger am Ende auch eine Belohnung erhält. Hier sollen auch die vorher angesprochenen Rondos beziehungsweise die dadurch erlangten Fähigkeiten, mit Kurzpasskombinationen auf die Flügel zu gelangen, zum Tragen kommen.
Interessant wird es genau dann, wenn die verteidigende Mannschaft verschieben muss. Das tut sie nämlich auch immer in einer geschlossenen Gruppe, in der die ballnahen Quadrate alle bedeckt sein müssen. Die anderen Spieler versuchen das Zentrum weiterhin zu besetzen beziehungsweise die Spieler, die näher zum Tor stehen, mannorientiert zu decken. So wird der vorhin beschriebene Vierer-Block in die Köpfe der Spieler eingetrichtert und in einem praktischen Kontext eingeübt.
Auf dem Gipfel seines Schaffens angekommen
Bei der Wahl zum Welttrainer des Jahres wurde Simeone letzten Endes hinter Joachim Löw und Carlo Ancelotti Dritter. Der Argentinier feierte mit Atlético Madrid in der Saison 2013/14 den unumstrittenen Durchbruch, sowohl zusammen mit seiner Mannschaft als auch rein persönlich als Trainer. Der kleine Junge aus Buenos Aires war am Gipfel seiner Schaffenskraft angekommen.
Zwar polarisieren Simeones hektische Bewegungen an der Seitenlinie die Fußballwelt und gelten als Ausdruck seiner schier unfassbaren Leidenschaft, doch sollte man nicht dazu neigen, den Argentinier nur auf diese Attribute zu reduzieren. ‘Cholo’ erarbeitete sich im Laufe seiner Laufbahn einige hochinteressante taktische Kenntnisse, die ihn in der heutigen Fußballwelt, egal wie man nun zu ihm steht, unbestritten zu einem der besten Trainer der Welt machen