Es herrscht verkehrte Welt im Camp Nou. Die Angreifer werden zu Verteidigern und letztere avancieren immer mehr zu integralen Bestandteilen des katalanischen Offensivspiels. Es scheint, als gebe es keine Grenzen für diese Mannschaft, die bereits vor dem Erreichen ihres Zenits historischen Status erlangt hat.
Sie ist eine lebende Legende, die Konventionen im Fußball eine klare Absage erteilt. Es wird das Ziel verfolgt, das Spiel zu perfektionieren und es auf eine neue, bisher noch nie da gewesene und unerreichte Ebene anzuheben. Vorbei sind die Zeiten, als der Fan dieser Sportart mit einem unspektakulären Catenaccio gequält oder mit überzogenem Offensivspiel auf Kosten der Defensive in den Wahnsinn getrieben wurde. Beim FC Barcelona wird jedes Abteil gewürdigt und erfährt eine der Bedeutung entsprechende großzügige Wertschätzung. Das ist kein Catenaccio, auch kein Offensivfeuerwerk, das der Rivale aus Madrid oft zu spielen pflegt. Es ist vielmehr so etwas wie die absolute Kontrolle im scheinbaren Chaos. Vieles erscheint chaotisch im Spiel der Blaugrana, insbesondere dann, wenn plötzlich ein gelernter Rechts- und ein Innenverteidiger auf dem rechten Flügel einen Angriff vortragen und dabei bis auf die Grundlinie vordringen. Dabei hat dies nur wenig mit einem undisziplinierten Verhalten der Spieler zu tun, die ihrer Willkür freien Lauf lassen. Diese Vorgehensweise hat System und ist bis ins kleinste Detail geplant und durchdacht. Der FC Barcelona ist, um es zugespitzt zu formulieren, der Ronny O’Sullivan der Fußballwelt, der im größten Kugelchaos den Tisch mit einer total-clearance leerräumt, weil er systematisch vorgeht und schlichtweg ein Genie ist. Wie der FC Barcelona.
Der Spielverlauf
Für jene, die heute früh aufstehen mussten und nicht in den Genuss des Spiels kamen, sei kurz der Spielverlauf skizziert. Wenn man sagen würde, das Spiel sei einseitig gewesen, so wäre dies ein guter Bluff, der die Person für die besten Pokertische der Welt qualifizieren würde. In Wahrheit war das spielerische Missverhältnis so eklatant, dass – bei allem Respekt vor Osasuna – diese Mannschaft kein Faktor im gestrigen Spiel gewesen ist. Sie waren nicht einmal in der Lage, den Ball länger als zehn Sekunden in ihren eigenen Reihen zu halten, wobei die Auswahl dieser Zahl schon von wohlwollenden Erwägungen getragen wird. Der FC Barcelona hingegen ist nicht auf Beschönigungen seines Spiels angewiesen. Sein Spiel spricht für sich und ist so herrlich schön, dass es fast nicht in Worte zu fassen ist. Mit dem 4:0 gelang den Katalanen ein Einstand nach Maß ins neue Jahr, welcher die teaminternen Vorsätze in diesem Jahr noch einmal bekräftigt hat. Der Ball zirkulierte gefällig und sehr schnell durch die Reihen der Blaugrana, ohne dabei die spielerische Eleganz zu vernachlässigen. So entstanden häufig traumhafte Kombinationen, die einen Eintrag ins Fußballlehrbuch unter dem Kapitel „Magie“ verdient hätten. Wenn man zwei Monate zurückdenkt, wird sich der Erinnerung noch ein anderes Gesicht des FC Barcelona offenbaren, das von Hemmungen und großer Trägheit gezeichnet war. Das Spiel des FC Barcelona ist nun enthemmt und strotzt nur so vor Spielfreude. Osasuna musste dies schmerzhaft erfahren, darf sich aber ob der spielerischen Klasse des Gegners keine allzu großen Vorwürfe machen. Der FC Barcelona ist, insbesondere im Camp Nou, nun mal eine Hausnummer, der kein Verein der Welt standhalten kann. Wenn es eine Sache gibt, die kritikwürdig ist, dann ist es die fahrlässige Chancenverwertung der Mannschaft. Wer bei vier Hochkarätern nur ein Tor erzielt, muss für gewöhnlich an seiner Effizienz vor dem Tor arbeiten. Nicht hingegen der FC Barcelona, der in einem Spiel über eine Vielzahl solcher hochwertigen Torchancen verfügt. Gegen stärkere Gegner sollte man jedoch sparsamer mit den Möglichkeiten umgehen.
Perfektionierung des 3-4-3
Wenn man an die Anfänge der Saison zurückdenkt und sich die erstmaligen Anwendungen der 3-4-3 Formation in Erinnerung ruft, wird man feststellen, dass die Mannschaft seither mit diesem System große Fortschritte erzielt hat. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, hat Guardiola das System trotz Schwierigkeiten bei der Umsetzung nicht sofort verworfen, sondern immer wieder hierauf zurückgegriffen, sodass die Mannschaft immer mehr an Erfahrung hinzugewonnen hat. Das Festhalten am 3-4-3 hat sich also ausbezahlt, es bietet dem Team mehr Möglichkeiten im Verhältnis zum konventionellen 4-3-3. Das Spiel wirkt nun wesentlich variantenreicher, was es dem Gegner viel schwieriger macht, sie auf den FC Barcelona einzustellen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass dieser Zugewinn an Flexibilität und Varianz nicht auf Kosten der Stabilität passiert ist. Dies war zu Beginn noch ganz anders, als der systembedingte Verteidigermangel nicht durch ein intelligentes Stellungsspiel der Mittelfeldspieler ausgeglichen wurde. Heute lassen sich die Mittelfeldspieler etwas nach hinten zurückfallen, wenn die Verteidiger vorne stürmen. Sie antizipieren die Räume besser, in die der Gegner bei Ballverlust hineinstechen könnte und machen diese dicht. Auch die Stellung der Spieler zueinander führt zur schnelleren und dynamischeren Schließung etwaiger Lücken, sodass es dem Gegner äußerst schwer fällt, Konter einzuleiten. Insgesamt bewirkt die Umstellung vom 4-3-3 auf ein 3-4-3-System, dass die durch die Spieler vordefinierten Möglichkeiten einer Mannschaft besser ausgereizt werden. Es ist wie maßgeschneidert für diese lernwillige und aufnahmefähige Mannschaft. Der FC Barcelona verfügt über zahlreiche Mittelfeldspieler von Weltklasseformat. Es wäre sehr schade und eine Verschwendung, wenn immer zwei von ihnen auf der Bank Platz nehmen müssten. Zudem könnte Alves in diesem Fall nicht in diesem Maße seine Offensivqualitäten zum Wohle der Mannschaft einsetzen. Oder ein Adriano, je nachdem, welche Angriffsseite Guardiola betonen will. Ein anderer Punkt ist, dass das 3-4-3 die Anreize der Spieler zum Positiven hin verändert. Die etatmäßigen Verteidiger werden vermehrt in das Offensivspiel eingebunden oder gar zu Offensivkräften umfunktioniert, wie im Fall Alves. Dieser erlebt zurzeit seinen zweiten Frühling und geht völlig in seiner neuen Rolle auf dem Feld auf.
Xavi, Pique und Fabregas überragend
Nicht nur Alves hat das gestrige Spiel sichtlich Spaß bereitet, auch andere Spieler haben tolle Leistungen erbracht. Das gute Spiel und der Sieg gegen Osasuna war das Ergebnis einer guten geschlossenen Mannschaftsleistung, bei der jeder Spieler die ihm zugewiesene Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erfüllte. Dabei ragten drei Spieler in besonderer Weise durch ihre Performance heraus. Xavi dirigierte das Spiel wie zu besten Zeiten. Wobei dieser Wortwendung nur im übertragenen Sinne zu verstehen ist; Xavi befindet sich gerade in der Zeit und der Form seines Lebens. Seine Bewegungen auf dem Feld sind sehr harmonisch und flüssig und zeugen von einer unglaublichen Eleganz. Pique war der Abräume am Vorabend. Es gab kaum einen Zweikampf, aus dem er nicht als Sieger hervorging. Mit zahlreichen Ballgewinnen an der Mittellinie erstickte er gegnerische Angriffsbemühungen im Keim. Auch behielt er stets die Lufthoheit und gewann jedes Kopfballduell. Eine starke Vorstellung des Innenverteidigers. Schließlich war auch die Vorstellung von Fabregas aller Ehren wert. Mit viel Gefühl überlupfte er bei seinem zweiten Tor den herauseilenden Torwart und unterstrich seinen unglaublichen Zug zum Tor. Mit ihm ist der FC Barcelona, wie bereits vielfach erörtert, in der Offensive noch unberechenbarer. Alles in allem war das Spiel gegen Osasuna ein gelungener Auftakt in das Jahr 2012. So darf es gerne auch in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen. Visca el Barça!
Raphael L.