Baustelle Barça

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Bildquelle: fcbarcelona

Regungs- und emotionslos nahm er das Geschehen und die Hiobsbotschaften, die nur so auf ihn einregneten, zu Kenntnis. Was wohl in ihm vorgegangen sein mag, hat er das Sturmgewitter kommen sehen? Für einen Trainer, dessen Mannschaft gerade dabei war, schwer unter die Räder zu geraten, nahm Tito Vilanova die Ereignisse des gestrigen Abends mit beachtenswerter Fassung. Das gestrige 0:4 Debakel gegen die Bayern ist für viele Fans Anlass genug, alles und jeden in Frage zu stellen, angefangen bei dem Trainer, den Spielern bis hin zu Sandro Rosell. Unter dem Eindruck der Niederlage wird das Augenmerk darauf gelegt, was Barça nicht hat oder nicht kann. Diese resignierende Haltung ist sicherlich verständlich in Anbetracht einer solchen Schmach, aber man darf es sich nicht allzu leicht machen. Das ist unser Trainer, es sind unsere Spieler und unser Verein, der über eine einzigartige Identität, ein einzigartiges Selbstverständnis verfügt. Bei allem Tatendrang muss dieser Identitätskern erhalten bleiben! Ansonsten verliert der FC Barcelona jenes Gut, für das er jahrzehntelang gekämpft hat: Die Magie.

Nachfolgend werden einige der potenziellen Defizite benannt und mögliche Lösungen angesprochen. Die Abhandlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte nur als Aufhänger für weitergehende Diskussionen dienen.

Angriffspressing eine Lösung?

Bereits kurz nach dem Abpfiff wurden Stimmen laut, die sich eine Rückbesinnung auf das starke Angriffspressing der Vergangenheit wünschen – ein zentrales Element des totaalvoetbal, das unter Guardiola seinen Höhepunkt erreicht hat und in dieser Saison stark reduziert wurde. Die Motive für diese Entscheidung können vielfältig sein, am wahrscheinlichsten aber ist, dass diese Spielart mit starken Verschleißerscheinungen zu kämpfen hatte. José Mourinho hat mit seinen Madrilenen gezeigt, wie man sich des katalanischen Angriffspressings entzieht; und zwar dergestalt, dass man sich gar nicht erst auf das Risiko eines Spielaufbaus aus der Abwehr heraus einlässt. Die Sechser orientieren sich nach vorne und versuchen erst gar nicht, den Abwehrspielern eine Fortsetzung im gepflegten Spielaufbau zu vermitteln, sondern haben die Eroberung des ersten oder zweiten Balles im Sinn, nachdem dieser hoch hinaus aus dem eigenen Spielfelddrittel geschlagen worden ist. Auch bei den Bayern hatte ein Angriffspressing kaum einen Anknüpfungspunkt. Sobald die Abwehrspieler das Gefühl hatten, in zu große Bedrängnis zu geraten – das Angriffspressing des FC Barcelona war verglichen mit den letzten Jahren schwach ausgeprägt -, wurde der Ball einfach nach vorne geschlagen, wohlwissend, dass ihre Spieler und insbesondere die beiden Sechser bereits in der Position sind, um eine schnelle Rückeroberung der Hoheitsgewalt über den Ball zu erreichen. Des Weiteren ergaben sich in der Vergangenheit aus einem fehlgeschlagenen Angriffspressing Unterzahlsituationen, die nur mit Glück und Valdés glimpflich ausgegangen sind.

Die Defizite bei Standardsituationen

Richtiger Bezugspunkt für Verbesserungen ist aber zweifelsfrei das Verhalten bei Standardsituationen. Die Lufthoheit des FC Bayern und anderer Vereine war in dieser Saison beängstigend und hat dem katalanischen Spiel Grenzen aufgezeigt. Bei Ecken hat man jederzeit das erdrückende Gefühl, dass ein Gegentor fallen könnte, wenn der Gegner über Akteure verfügt, deren Personalausweis eine Körpergröße jenseits der 1,90m ausweist. Nicht nur die relative Kleinwüchsigkeit der Spieler ist ein Problem, auch die Zuordnung bei Standards wird dem Anspruch des Vereins nicht gerecht. Die Barça-Stars verlieren ihre unmittelbaren Gegenspieler allzu oft aus dem Blick und orientieren sich zu stark in Richtung Ball. Selbstverständlich kann man nicht beides haben, kopfballstarke Spieler und edle Techniker. Bei Barça stimmt aber derzeit die Balance nicht. Zumindest in der Abwehr sollte mehr als nur ein großgewachsener Spieler vertreten sein, um bei gegnerischen Standards nicht völlig auf dem verlorenen Posten zu stehen.

Die Idee einer Systemumstellung

Mit der Verpflichtung großgewachsener Akteure würde man die Probleme bei Standards halbwegs in den Griff bekommen. Viel schwieriger ist jedoch eine Antwort auf die Frage, wie sich der FC Barcelona gegen kompakte, gut organisierte Mannschaften mehr Torchancen herausspielen kann. Gefühlt eine halbe Ewigkeit haben sich die Spieler gestern den Ball zugepasst, ohne sich nennenswert dem gegnerischen Tor zu nähern. Die Bayern standen kompakt, waren aggressiv und äußerst beharrlich in den Zweikämpfen, was letztlich zu massiven Schwierigkeiten des Gastes führte, das letzte Spielfelddrittel zu erreichen und gefährlich vor das Tor zu kommen. Wenn eine Mannschaft weltmeisterlich verteidigt wie die Bayern, dann kann eine Möglichkeit, sich Torchancen herauszuspielen, darin bestehen, schnell umzuschalten und durch ein vertikales Angriffsspiel die Unordnung des Gegners auszunutzen. Etwas, das wir beim FC Barcelona nicht beobachten konnten. Alles im Spiel war darauf ausgelegt, die absolute Kontrolle über den Ball zu erlangen und ihn in den eigenen Reihen zu halten. Ehe man sich versah, hatte der FC Bayern seine Ordnung bereits hergestellt und ließ den Gegner gegen eine mobile Schrankwand anlaufen. 

Dass sich der FC Barcelona schwer tut, gegen physisch starke, disziplinierte Gegner schnell umzuschalten, ist ein nicht unbekanntes Phänomen. Es hat hauptsächlich mit den beiden Flügelspielern zu tun, die sehr stark in die Defensivarbeit mit eingebunden sind und damit als Anspielstation für ein vertikales schnelles Umschaltspiel fehlen. Durch ihre exzessive Teilnahme an der Verteidigung – Pedro war gestern zuweilen an der Grundlinie anzutreffen – sollen die Unzulänglichkeiten von Xavi und Iniesta in der Rückwärtsbewegung kaschiert werden, auf Kosten der offensiven Schlagkraft. Der Gegner erhält damit ausreichend Zeit, sich zu ordnen und die Katalanen mit neun Spielern hinter dem Ball vor eine große Herausforderung zu stellen.

Dieses Problem wurde auf barçawelt schon vor Monaten intensiv diskutiert. In diesem Zusammenhang hat unser Mitglied Mühsam die Idee eingebracht, das System auf ein 4-2-3-1 umzustellen bzw. eine Doppelsechs einzuführen. Von den vier Mannschaften im Champions League-Halbfinale ist der FC Barcelona die einzige, die ohne Doppelsechs auskommt und auf ein nominelles 4-3-3 setzt. Dieses gewährleistet die räumlich-nahe Koexistenz von Iniesta, Xavi und Busquets auf dem Spielfeld, der Erfolgsachse der Vergangenheit. Dank diesen drei Spielern läuft der Ball im Mittelfeld wie ein heißes Messer durch die Butter. Welche Vorteile könnte ein 4-2-3-1 für sich beanspruchen? Zum einen würde es dem Defensivspiel des FC Barcelona sicherlich mehr Stabilität verleihen. Es wäre ausgewogener und Busquets müsste nicht mehr allein die Unterstützung der Verteidigung schultern. Andererseits würde diese Umstellung auch die Flügelspieler entlasten, indem es ihnen defensive Verbindlichkeiten abnimmt und offensiv mehr Möglichkeiten eröffnet. Damit ergäben sich bessere Voraussetzungen für ein schnelleres Umschalten. Ribery und Robben beteiligen sich zwar auch an der Defensivarbeit ihrer Mannschaft, sind dank der Unterstützung ihrer Sechser jedoch immer auf dem Sprung nach vorne und kommen im Gegensatz zu Pedro und Sánchez seltener in die Situation, den Ball mit dem Rücken zum gegnerischen Tor annehmen zu müssen.

Das Verwerfen des 4-3-3 würde aber auch Opfer fordern, sowohl personelle als auch spielerische. Für Xavi bestünde in solch einem System kein Raum, wodurch das Erfolgstrinquett Geschichte wäre. Das Wesen des Barça-Spiels wäre dann ein anderes, wahrscheinlich weiterhin dominant und mit hohem Ballbesitz, aber mit mehr vertikalen Anteilen. Ob solch eine einschneidende Änderung tatsächlich notwendig ist, kann man aber als Laie kaum beurteilen.

Neue Impulse

Dass sich allerdings etwas verändern muss, steht außer Frage. Insbesondere in personeller Hinsicht können die Blauroten aufrüsten, und das nicht nur auf der Position der Innenverteidigung. Die Mannschaft benötigt neue Impulse; sie ist zurzeit nicht in der Lage, massive Abwehrbollwerke auseinanderzunehmen. Vor einigen Jahren sah das noch anders aus, mit ihrer kollektiven Genialität wurden auch die größten Abwehrreihen erklommen. Nunmehr regiert Ideen- und Einfallslosigkeit im letzten Spielfelddrittel – es fehlt der Spielwitz und das Risiko. Die Abhängigkeit von einem Geniestreich durch Lionel Messi ist unübersehbar und rechtfertigt die Forderung nach neuem Schwung im Angriffsspiel. Pedro, Alves, aber auch Xavi können sich in der Offensive nicht mehr so einbringen, wie man es von ihnen in der Vergangenheit gewohnt war. Die Hereingaben von Alves gegen die Bayern waren eines Rechtsverteidigers beim FC Barcelona unwürdig. Wenn der Verein international wieder etwas reißen will, dürfen große Namen, die sich über dem Zenit ihrer Schaffenskraft befinden, nicht verschont werden. 

Ein etwas anderer Ansatz, neue Impulse ins Spiel des FC Barcelona hineinzubringen, geht dahin, einen reinrassigen Stürmer zu verpflichten, der Torgefahr ausstrahlt und die Bälle vorne behaupten kann. Es kursiert bereits seit längerem ein Gerücht, dass Tito Vilanova zur nächsten Saison einen solchen Spielertyp verpflichten möchte. Aus taktischer Sicht hätte diese Verpflichtung ihren Reiz in der Möglichkeit, auch mit hohen Bällen zu operieren und das Spielfeld nicht nur mit Tiki Taka überbrücken zu können. Robert Lewandowski z.B., ein Name, der in letzter Zeit häufig durch die MundoDeportivo kursiert, erspart seinem BvB häufig die Mühen eines Aufbauspiels, indem er einen hohen Ball perfekt verarbeitet und behauptet. Es bleibt damit festzuhalten, dass ein solcher Spieler neue taktische Möglichkeiten mit sich bringen würde.

Der Trainer

Mag dieser Tage auch vieles zur Disposition stehen, Tito Vilanova zu unterstellen, er sei unfähig, ist eine riesengroße Anmaßung. Er ist vielleicht nicht der impulsivste Trainertyp auf Erden und introvertiert. Das aber disqualifiziert ihn jedoch nicht automatisch als Trainer des FC Barcelona. Ein Trainer muss nicht immer rumbrüllen und rumschreien, um Erfolg zu haben. Waleri Lobanowski z.B., rip, hat während einer Partie seiner Mannschaft nicht einmal den Kopf geneigt. Er saß vielmehr wie eine Statue auf seinem Trainersessel, sog aber jede Information, die ein Spiel hergab, auf wie ein Dyson-Staubsauger. Er gilt als einer der besten Trainer der Fußballgeschichte. Man muss jeden Menschen nehmen, wie er ist. Und Vilanova hat nunmal ein ruhigeres Wesen als Pep Guardiola. Daraus kann man allerdings keinerlei Rückschlüsse auf die jeweilige Begabung ziehen. 

Erst spät wurde offenbar, dass Pep Guardiola nicht verlängern wird. Viel Zeit blieb ihm nicht, um neue Spieler zu verpflichten und seine Vorstellungen durchzusetzen. Dass er einen Plan hat, ist klar ersichtlich, nur die Umsetzung ließ zu wünschen übrig. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass die Bedingungen im Vergleich zur Guardiola-Ära schlechter waren und dass die Mittel, die ihm Guardiola hinterlassen hat, nicht mit seinem Ziel harmonieren. Aus diesem Grund sollte man nachsichtig sein und den Mann seine Arbeit tun lassen. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, der FC Barcelona muss sich im fußballerischen Bereich neu erfinden; und die Grundlage dazu bilden die eigenen Werte und das Selbstverständnis. Die Magie wird erhalten bleiben.

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