Mit Juventus Turin und dem FC Barcelona erheben am Samstag zwei Riesen Anspruch auf die begehrteste Krone im internationalen Vereinsfußball. Beide Klubs blicken auf eine lange und traditionsreiche Geschichte zurück, die Italiener wie die Katalanen kennen das Gefühl, das sich einstellt, wenn einem die Fußballwelt zu Füßen liegt. Genauso wie ihnen aber das Rampenlicht ein Begriff ist, wissen sie auch um die Zeichen von Verfall und Niedergang. Im Fall von Juventus Turin ist damit vor allem der Manipulationsskandal aus dem Jahre 2006 angesprochen. Die Italiener haben äußerst turbulente 20 Jahre hinter sich, und die nachfolgenden Zeilen sollen dem interessierten Culé eine Möglichkeit bieten, den kommenden Gegner etwas besser kennenzulernen.
Die letzten 20-30 Jahre in der Chronologie von Juventus Turin könnten kontrastreicher kaum sein. Auf die erfolgreichste Ära der Vereinsgeschichte in den 90er-Jahren folgte nach der Jahrtausendwende ein sehr tiefer Fall, wie er selten zuvor einem großen und traditionsreichen Verein widerfahren ist. Der Verein brauchte lange, um wieder in die rechten Bahnen zu gelangen und sich sportlich nach oben zu kämpfen. Was es für Juve bedeutet, nun wieder im Finale der Königsklasse zu stehen, erschließt sich einem erst, wenn man die letzten Jahrzehnte der ‘Alten Dame’ Revue passieren lässt.
Die 90er Jahre: Eine goldene Ära für Juventus Turin
Die erfolgreichste Zeit spielte sich für die Italiener in den 90er-Jahren ab. 1993 traf Juve im Finale des UEFA Cups auf Borussia Dortmund – und zwar ausgerechnet im Westfalenstadion. Michael Rummenigge brachte die Deutschen bereits in der 2. Minute 1:0 in Front, bis Dino Baggio und ein gewisser Roberto Baggio – die tragische Figur bei der WM 1994 beim Elfmeterschießen – das Spiel drehten und mit dem Triumph im UEFA Cup eine erfolgreiche Ära einläuteten. Bei den Italienern lief es aber keineswegs wie am Schnürchen, 1994 vollzog sich ein großer Umbruch. In die Führungsebene kamen mit Roberto Bettega, Antontio Giraudo und Luciano Moggi, dem späteren Strippenzieher beim Wettskandal, frische Gesichter. Auf der Trainerbank nahm Marcelo Lippi Platz und sah sich der Herausforderung gegenüber, neue Spieler wie Ferrera, Paulo Sousa, Deschamps und den noch sehr jungen Alessandro Del Piero in die Mannschaft und sein Konzept zu integrieren. Lange Zeit benötigte der neue Trainer hierfür nicht: Zwar unterlag seine Mannschaft diesmal im UEFA-Cup-Finale gegen Parma, konnte sich in der Spielzeit 1994/1995 aber immerhin das Double bestehend aus Meisterschaft und Pokal sichern.
Ein echtes sportliches Drama ereignete sich in der darauf folgenden Saison. Am 22. Mai 1996 kam es zum Gigantentreffen gegen Ajax Amsterdam im Finale der Champions League. Zuvor hatte Juve im Viertelfinale Real Madrid und im Halbfinale Nantes ausgeschaltet. Nach 90 Minuten zeigte die Anzeigetafel 1:1, auch die Verlängerung brachte keine Entscheidung zugunsten einer der Mannschaften. Es ging ins Elfmeterschießen, in welchem dem damaligen Torhüter Peruzzi zwei Paraden gegen Davids und Silooy gelangen, während sich die Schützen der Italiener keine Blöße gaben. Der zweite Sieg in der Königsklasse nach 1985 war unter Dach und Fach.
In der Folge sammelten die Italiener weiterhin Meisterschaften am laufenden Band und rüsteten mit Spielern wie Montero und Zidane kräftig auf. In der Champions League waren sie 1997 nahe dran an der Titelverteidigung, doch diesmal behielt Borussia Dortmund im Olympiastadion das bessere Ende für sich. Auch 1998 zogen die ‘Bianconeri’ zum dritten Mal hintereinander in das Finale des prestigeträchtigen Wettbewerbs ein, mussten sich allerdings Real Madrid knapp mit 0:1 geschlagen geben. Immerhin avancierte Del Piero mit beachtlichen zehn Treffern zum Torschützenkönig der Champions-League-Runde.
Anschließend verletzte sich der italienische Stürmerstar, was das Team in die Bredouille brachte. Carlo Ancelotti ersetzte Lippi nach ausbleibenden Erfolgen, konnte die Erwartungen aber selbst nicht erfüllen und verließ Juventus Turin nach zwei Spielzeiten wieder. Angesichts dieser Bedingungen waren Inzaghi und Zidane nicht zu halten, trotzdem erreichte Juve im Mai 2003 noch einmal das Finale der Champions League, in dem es aber wiederum – diesmal im Elfmeterschießen – gegen den AC Milan unterlag. Dies war international das letzte große Ausrufezeichen der Schwarz-Weißen.
Der Manipulationsskandal: Ein großer Verein wird gegen die Wand gefahren
Die Loblieder auf die großen Jahre von Juventus Turin waren noch nicht verklungen, die Mannschaft immer noch gespickt mit Superstars, als 2006 die Kunde von einem Manipulationsskandal ungeheuren Ausmaßes den italienischen Fußball erschütterte. Protagonist der skandalösen Enthüllung war Luciano Moggi, dessen Telefonate abgehört worden waren und das Fundament der damaligen Beschuldigungen bildeten. Vor allem Schiedsrichter soll der damals 68-Jährige systematisch beeinflusst haben, indem er seinen Kontakt zu den Schiedsrichter-Koordinatoren Paolo Bergamo und Luigi Pairetto spielen ließ. Auf diese Weise soll es ihm gelungen sein, Einfluss auf die Auslosung der Schiedsrichter zu nehmen. Außerdem soll er Schiedsrichter auch unmittelbar angewiesen haben, gewissen Spielern vor den kommenden Spielen gegen Juventus Turin Gelbe Karten zu verteilen, um sie auf diese Weise für die entsprechende Partie auszuschließen.
Anhand der aufgezeichneten Telefonate könne außerdem nachvollzogen werden, wie Moggi nach einer knappen Niederlage seines Vereins Schiedsrichter Gianluca Paparesta in der Kabine einsperrte, um ihn für seinen Ungehorsam zu bestrafen. Die wirtschaftliche Macht seines Vereins habe der Manager dazu eingesetzt, Mannschaften zu schwächen, die ihm nicht genehm gewesen seien. So habe er in einem Telefonat ganz ungeniert erwogen, einem Trainer seinen Spieler wegzukaufen, um ihm auf diese Weise eine Lektion zu verpassen. Hintergrund waren Doping-Vorwürfe, die den italienischen Fußball betrafen und auch in die Richtung von Juventus Turin gingen.
Die Strafe des italienischen Fußballverbandes fiel für den Verein drakonisch aus: Neben dem Zwangsabstieg in die Serie B mussten die Italiener mit einem Handicap von neun Punkten in die neue Saison starten. Die letzten zwei Meisterschaften wurden ihnen aberkannt. Viele hervorragende Spieler waren nicht mehr zu halten, Ibrahimović, Vieira, Cannavaro, Zambrotta und Thuram suchten das Weite. Del Piero, Camoranesi und der heute immer noch aktive Gianluigi Buffon hingegen folgten der ‘Alten Dame’ in die zweite Liga und wurden dabei von Trezeguet und Nedved begleitet. Fußballerische Klasse war bei Juve also weiterhin vorhanden, zumal die Italiener für ihre hervorragende Nachwuchsarbeit bekannt sind. Der sofortige Wiederaufstieg in die Serie A unter der Führung von Didier Deschamps war daher trotz des Punkte-Handicaps, das ursprünglich wesentlich höher sein sollte, keine Sensation.
Der Kampf nach ganz oben: Das richtige Händchen bringt die Wende
Die Jahre nach dem Wiederaufstieg in die erste Spielklasse waren für Juventus Turin nicht mit Erfolg gekrönt. Mehr als ein zweiter Platz in der Liga sprang für die ‘Bianconeri’ nicht heraus, während im Vereinsumfeld weiterhin Unruhe herrschte und Trainer ein- und ausgingen. Die Wende brachte die Ankunft von Andrea Agnelli für das Amt des Präsidenten, der sofort Giuseppe Marotta mit der Beaufsichtigung der sportlichen Abteilung beauftragte und zum CEO ernannte. Mit Trainer Antonio Conte stellte sich dann auch wieder der Erfolg ein. Dieser verpflichtete mit Lichtsteiner, Vucinic und Andrea Pirlo Leistungsträger und brachte den nach Erfolgen dürstenden Verein wieder in die Spur.
Zwischen 2011 und 2015 sicherten sich die Italiener gleich vier ‘Scudetti’ in Folge. 2015 gewannen sie zudem den italienischen Pokal erstmals wieder seit 1995. Nur international hat Juventus Turin, gemessen an der glorreichen Vergangenheit, noch Nachholbedarf. In der Spielzeit 2012/2013 unterlag die ‘Alte Dame’ im Viertelfinale dem späteren Sieger FC Bayern München jeweils mit 0:2. In der darauf folgenden Saison war für Andrea Pirlo und Co. bereits in der Vorrunde Schluss. Zwar konnte sich die Mannschaft gegen den Gruppenfavoriten Real Madrid durchaus behaupten, verlor dann aber das entscheidende Spiel gegen Galatasaray mit 1:0 und musste den Türken den Vortritt lassen.
Mehr als zehn Jahre seit dem letzten Finale in der Champions League gegen den AC Milan ist Juventus in dieser Saison wieder in der europäischen Spitze angekommen und kann den nächsten Coup der Geschichte landen. Die Dominanz der 90er Jahre ist vorbei, und doch haben die Italiener bewiesen, dass mit ihnen immer zu rechnen ist und man sie niemals abschreiben darf. Stück für Stück haben sie sich nach dem Manipulationsskandal wieder an die europäische Spitze herangekämpft und die Turbulenzen mit intelligenten personellen Entscheidungen hinter sich gelassen. Und sie werden auch am Samstag den Kampf gegen den FC Barcelona aufnehmen. Mit Gianluigi Buffon, der dem Verein auch nach dem Zwangsabstieg in die Serie B treu blieb. Mit einem Andrea Pirlo im Spätherbst seiner Karriere – mit Sicherheit aber noch nicht zu spät für den einen oder anderen Geniestreich auf dem Platz. Barça ist gewarnt, die Talsohle ist überwunden.