Nach einer titellosen Saison und dem darauffolgenden Ausverkauf der halben Mannschaft steht Diego Simeone bei Atlético Madrid vor der schweren Aufgabe, eine neues Team zu formen. Wir schauen zurück auf das, was den Sommer über im Wanda Metropolitano passiert ist und wagen einen Blick in die Zukunft. Die große Vorschau zu Atlético.
Eigentlich war der Abend des 12. März 2019 schon für eine große rot-weiße Party reserviert. Oder besser gesagt für die sichere Heimkehr von derselbigen, denn die eigentliche Feier gab es bereits drei Wochen zuvor, als Atlético Madrid Juventus Turin im Achtelfinalhinspiel dank einer großartigen Leistung im heimischen Metropolitano mit 2:0 besiegt hat. Das Weiterkommen, so glaubte jeder, sei nur noch eine Formsache.
Und wie nicht selten in solch einer Situation lagen sie alle falsch. Nach einem lustlosen und blutleeren Auftritt schieden die Colchoneros aus dem Wettbewerb aus. Alle drei Tore der Alten Dame steuerte der an diesem Abend blendend aufgelegte Cristiano Ronaldo bei, der Atlético somit zum fünften Mal in sechs Jahren aus der Champions League warf. Der große Traum vom Finale im eigenen Stadion war dahin.
Die weiteren Wochen verliefen relativ ereignislos, und die Rojiblancos beendeten die Saison letztlich erneut als Vizemeister. Gerade als sich die meisten Atlético-Fans mental schon in der Sommerpause befanden, platzte die Bombe: Antoine Griezmann teilte in einer Videobotschaft mit, den Verein in der kommenden Transferperiode zu verlassen. Die Pleite gegen Juve führte beim Superstar Atléticos offenbar endgültig zum Umdenken – und hatte weitreichende Konsequenzen.
Das große Gehen
Ein weiterer Schlag in die Magengrube und doch nur die Spitze des Eisbergs. Denn zu diesem Zeitpunkt stand bereits fest, dass Lucas Hernández sich dank seiner Ausstiegsklausel in Höhe von 80 Millionen Euro dem FC Bayern anschließen und dass der Vertrag mit Kapitän Diego Godín nicht verlängert werden würde. Kurz darauf kam die Bestätigung, dass selbiges für Juanfran und Filipe Luís galt.
Drei drei langjährige Säulen liefen am 34. Spieltag in Levante das letzte Mal in rot-weiß auf, und auch wenn sie leistungstechnisch zuletzt merklich abbauten (dies gilt vor allem für die beiden Außenverteidiger), so werden sie dem Team doch fehlen. Und als sei das noch nicht genug, verlor Atlético auch noch Shootingstar Rodri, der nach einer phänomenalen Saison dem Ruf von Pep Guradiola nach Manchester folgte. 70 Millionen Euro flossen dafür auf das Konto der Madrilenen (nachdem man ihn 12 Monate zuvor für gerade einmal 20 Millionen Euro aus Villarreal zurückgeholt hat).
Nun standen Diego Simone und Co. vor der schwierigen Aufgabe, die abgewanderten Akteure zu ersetzen und wieder ein schlagkräftiges Team zusammenzustellen. Ein Umbruch – aber wenigstens einer, der mit gut gefüllten Geldtaschen angegangen werden konnte.
Die Transferperiode
Abgänge:
- Antoine Griezmann (120 Mio., FC Barcelona)
- Lucas Hernández (80 Mio., FC Bayern München)
- Rodri (70 Mio., Manchester City)
- Gelson Martins (30 Mio., AS Monaco)
- Diego Godin (ablösefrei, Inter Mailand)
- Filipe Luís (ablösefrei, Flamengo)
- Juanfran (ablösefrei, FC São Paulo)
Zugänge:
- João Felix (126 Mio., Benfica)
- Marcos Llorente (30 Mio., Real Madrid)
- Mario Hermoso (25 Mio., Espanyol Barcelona)
- Kieran Trippier (22 Mio., Tottenham)
- Felipe (20 Mio., FC Porto)
- Renan Lodi (20 Mio., Athletico Paranaense)
- Héctor Herrera (ablösefrei, FC Porto)
Zwei Transfers, die bereits sehr früh unter Dach und Fach gebracht wurden, tragen dabei deutlich die Handschrift von Diego Simeone, der seit jeher viel Wert auf Erfahrung in den Reihen seiner Spieler legt. Sowohl Felipe als auch Hector Herrera wechselten vom FC Porto in die spanische Hauptstadt. Beide dürften mehr als Ergänzungs- bzw. Rotationsspieler eingeplant sein. Allerdings sorgen sie für die dringend benötigte Tiefe in Atléticos Zentrum und bringen – wie zuvor bereits erwähnt – wertvolle Erfahrung in das ansonsten sehr stark verjüngte Team mit.
Mit Mario Hermoso findet ein weiterer Innenverteidiger seinen Weg ins Metropolitano. Nach einer starken Spielzeit bei Espanyol Barcelona machte Real Madrid überraschenderweise nicht von seiner Rückkaufoption Gebrauch und ließ den 24-Jährigen somit zum Lokalrivalen ziehen. Zusammen mit Jose Maria Giménez dürfte er in Zukunft eines der vielversprechendsten Innenverteidiger-Duos im Profi-Fußball bilden.
Runderneurung der Abwehr
Doch damit ist die Runderneuerung der Atlético-Abwehr noch nicht komplett. Schließlich musste auch für die abgewanderten Klub-Ikonen Juanfran und Filipe Luís Ersatz gefunden werden. Mit Renan Lodi haben sich die Colchoneros erneut einen brasilianischen Linksverteidiger ins Haus geholt. Lodi ist ein vielversprechendes und von vielen Experten hochgelobtes Talent, wenngleich er seine Klasse in Europa erst noch unter Beweis stellen muss. Sein Gegenpart auf der anderen Seite wird Kieran Tripper sein, der vom Champions-League-Finalisten Tottenham Hotspur kommt.
Als Ersatz für Rodri wurde Marcos Llorente vom Stadtrivalen Real verpflichtet. Wenngleich Rodri in der abgelaufenen Saison der vielleicht beste Spieler der Rojiblancos war, so könnte sein Abschied durchaus positive Folgen haben. Denn während Rodris Stärke ganz klar das Spiel mit dem Ball und das Verteilen desselbigen ist, ist Llorente eher der klassische Abräumer und passt somit als „Anker“ des Mittelfelds deutlich besser in das von Simeone präferierte System.
João Félix ist der neue Griezmann
Blieb noch die große Aufgabe, einen Nachfolger für Superstar Antoine Griezmann zu finden. Zahlreiche Namen geisterten durch den Raum, dennoch kristallisierte sich Shootingstar João Félix von Benfica Lissabon relativ schnell als Wunschlösung heraus. Für die exorbitante Ablösesumme von 126 Millionen Euro wechselte der Teenager an den Manzanares.
Für diesen Transfer hat der selbst betitelte Arbeiterklub sehr viel negative Presse einstecken müssen, stützt sich die Ablösesumme doch gerade einmal auf eine – zugegeben sehr starke – Saison, in der João Félix als Stammspieler in Lissabon auflaufen durfte. Doch die überragende Form, in der sich der Portugiese in der Vorbereitung präsentierte, ließ alle Kritiker vorerst verstummen. Bleibt abzuwarten, ob er seine Fähigkeiten auch in den anstehenden Pflichtspielen unter Beweis stellen kann.
Alles Neu im Metropolitano?
Doch nicht nur die zahlreichen Neuzugänge machen den Fans der Rot-Weißen Lust auf die neue Saison. Denn neben den personellen könnte es nun auch endlich einmal taktische Änderungen geben.
Wobei man nach solch einer Aussage erst einmal auf die Bremse treten muss, denn ohne Zweifel wird Atlético auch den Großteil der kommenden Saison in der altbewährten flachen 4-4-2-Formation spielen. Und auch den destruktiven Fußball wird Diego Simone seinen Mannen nicht von jetzt auf gleich austreiben.
Nichtsdestotrotz deutet alles daraufhin, dass Cholo hier etwas flexibler agieren wird. Bereits zum Ende der vergangenen Saison experimentierte er mit einem 4-3-3, und das offenkundige Interesse an James Rodriguez – wohlgemerkt einem Zehner – sowie Beobachtungen aus der Vorbereitung deuten daraufhin, dass auch eine Mittelfeldraute im Bereich des Möglichen ist.
Wer wird spielen?
Aufgrund der vielen Neuzugänge und der kleineren Fragezeichen hinter der taktischen Ausrichtung ist es daher gar nicht so leicht, eine mögliche Startelf für das erste Spiel gegen Getafe zu prognostizieren.
Fest steht wohl, dass sowohl Renan Lodi als auch Kieran Tripper starten werden. Die beiden Neuankömmlinge können endlich wieder dafür sorgen, dass sich die Außenverteidiger bei Atlético ins Offensivspiel einbringen (etwas, das zuletzt mit den alternden Juanfran und Filipe Luís so nicht möglich war) und die Stürmer mit Flanken füttern können. Dank ihnen kann das Spiel wieder breit gemacht werden, und die Flügelspieler aus dem Mittelfeld können sich – wie es sich Simeone immer wünscht – in Richtung Zentrum bewegen.
Etwas vakant ist derzeit noch der Posten des zweiten Innenverteidigiers neben Giménez. Sehr wahrscheinlich wird hier – trotz zuletzt schwachen Leistungen – Stefan Savic den Vorzug erhalten, aus dem einfachen Grund, dass er bereits einige Jahre im Team ist. In wichtigen Spielen dürfte Simeone später vor allem auf den erfahrenen Felipe setzen. Hermoso wird aller Wahrscheinlichkeit nach langsam an die erste Elf herangeführt. Spätestens in der nächsten Saison ist mit ihm jedoch als Stammspieler zu rechnen.
Das Mittelfeld wird auch dieses Jahr wieder eine starke Rotation erfahren. Neu-Kapitän Koke wird auf dem Papier wieder den rechten Außenbahnspieler mimen. Mit der Präsenz Trippiers in seinem Rücken wird er diese Rolle allerdings als die eines Achters im rechten Halbraum ausführen, sodass der Brite den Flügel quasi für sich alleine hat.
Die Rolle des defensiven Sechsers werden sich Llorente und Thomas teilen, während daneben Saúl etwas freier agieren kann. Auf links ist Thomas Lemar (neben Vitolo der einzige echte Flügelspieler im Team) gesetzt. Nach einer größtenteils unterdurchschnittlichen Saison ist es für den einstigen Rekordtransfers des Klubs Zeit, sich zu beweisen und das in ihn gesteckte Vertrauen zu rechtfertigen.
Bleiben noch die beiden Positionen im Angriff übrig. Hier wird sich taktisch nicht viel ändern. Diego Simeone wird auch weiterhin mit einem Stoßstürmer (Álvaro Morata, Diego Costa) und einer hängenden Spitze (João Félix), die hauptsächlich für die Spielgestaltung zuständig ist, spielen.
Es bleibt abzuwarten, welche Spieler sich den Colchoneros in den nächsten Wochen noch anschließen werden. Sollte James tatsächlich noch kommen, wird man die Formation so umstellen müssen, dass sie einen waschechte Zehner vorsieht. Dies könnte wie bereits angesprochen durch eine Raute im Mittelfeld oder aber auch durch ein 4-2-3-1 passieren. Letzterem würde dann jedoch sehr wahrscheinlich João Félix zum Opfer fallen, der dann auf den rechten Flügel ausweichen müsste.
Ein weiterer Name, der in den letzten Tagen sehr häufig im Zusammenhang mit einem Wechsel zu Atlético genannt wurde, war Rodrigo Moreno. Sollte Ángel Correa den Verein doch noch Richtung Milan verlassen, würde man die Einnahmen sofort in den Stürmer vom FC Valencia re-investieren. Das wäre die unmittelbare Reaktion auf die Oberschenkelverletzung, die sich Diego Costa beim Testspiel gegen Juventus Turin zugezogen hat.
Neue Saison, sofortiger Erfolg?
So oder so wird es eine interessante Saison im Metropolitano werden. Nachdem es aufgrund der zahlreichen Abgänge zu Beginn der Transferperiode sehr düster aussah, schöpften die Fans aufgrund der darauffolgenden Neuzugänge neue Hoffnung. Die Vorbereitungsspiele, in denen die Mannschaft bereits sehr gute Leistungen zeigte (allen voran João Félix, Diego Costa, Thomas Lemar und Vitolo), bestätigten diese Hoffnung noch einmal.
Nichtsdestotrotz dürfen die Erwartungen nicht zu hoch gehangen werden. Denn wie Diego Simeone bereits selbst sagte, handelt es sich hierbei um ein „Projekt“. Das Team dürfte ein bis zwei Jahre brauchen, bis es wirklich zusammengefunden hat und konkurrenzfähig ist, denn immerhin wurde beinahe die Hälfte der Stammelf ausgetauscht.
Zu unterschätzen ist dieses Team – vor allem im direkten Duell – dennoch nicht. Sollten der FC Barcelona und Real Madrid Schwierigkeiten haben, könnte Atlético da sein und möglicherweise sogar noch bis ins neue Jahr hinein im Meisterschaftskampf mitmischen.
Und auch wenn die Rojiblancos nicht als Favoriten in die Saison gehen, so sind doch alle gut daran beraten, sie für die Zukunft im Auge zu behalten.