Halbzeit in La Liga: Rückblick auf Barcelonas Hinrunde 2022/23

0
6377
FC Barcelona Xavi
Barcelonas Trainer Xavi kann auf eine sehr erfolgreiche Hinrunde in La Liga zurückblicken. | Photo by CRISTINA QUICLER/AFP via GettyImages

Das erste Jahr für Xavi Hernández als Trainer des FC Barcelona hatte einige Höhen, aber auch Tiefen. Mittlerweile ist der 43-Jährige jedoch als Übungsleiter angekommen, liefert in der Liga erstaunliche Zahlen und gewann seinen ersten Titel. Barçawelt analysiert die erste komplette Hinrunde unter Xavi.

Xavis erste volle Saison bei Barça

Blickt man nach dem 20. Spieltag auf die bisherige Saison, sieht das Bild aus Sicht des FC Barcelona sehr vielversprechend aus. Die Katalanen führen souverän die Ligatabelle mit acht Punkten vor Erzrivale Real Madrid an, stehen im Halbfinale der Copa del Rey und haben mit dem Gewinn der Supercopa, ebenfalls gegen Real Madrid, bereits erste Silberware im Regal stehen. Lediglich sieben Gegentore in 19 Ligapartien sprechen für eine bombensichere Abwehr – und noch mehr: Xavi hat Barça, vor anderthalb Jahren noch in einer institutionellen und wirtschaftlichen Krise steckend, wieder zu einer schlagkräftigen Truppe geformt. Doch der Ex-Spieler und jetzige Übungsleiter stand am 20. Spieltag erst zum 67. Mal als Trainer an der Seitenlinie. Seine Amtsübernahme am 6. November 2021 ist erst ein Jahr und knapp drei Monate her, oder anders formuliert: die Saison 2022/23 ist die erste, die Xavi von Beginn an, also mit Transferphase und Vorbereitung, bestreitet.

Ohne Vorbereitung und ob der klammen Kasse nur mit einer Handvoll, meist ablösefreien und geliehenen, Wintertransfers ausgestattet, führte Xavi den FC Barcelona immerhin zur Vizemeisterschaft, nachdem der FC Barcelona im November 2021 zeitweise auf dem 9. Tabellenplatz rangierte; weit ab von den internationalen Plätzen, wo es logischerweise auch immer um viel Geld geht. Im darauffolgenden Sommer krempelte der Klub den Kader gründlich um und ließ Xavi bei den Spielerkäufen und -verkäufen entscheidend mitbestimmen, was bedeutet: Der Vorstand um Joan Laporta schenkt der Vereinslegende viel Vertrauen und weiß, dass eine Topmannschaft nicht über Nacht wächst.

Ronald Koeman vs. Xavi: Barça-Trainer im Vergleich

Bei der Marke von 50 Spielen wies Xavi noch weniger Siege auf als sein Vorgänger Ronald Koeman. Mehr noch: Xavi landete im ewigen Vergleich mit anderen Barça-Trainern mit einer Siegquote von 63 Prozent nur auf Platz 25 hinter beispielsweise Ernesto Valverde, Tata Martino oder Luís Enrique. Zudem schied Xavi – trotz namhafter Einkäufe wie Jules Koundé, Raphinha oder Robert Lewandowski – bereits in der Gruppenphase der Champions League aus.

Nicht vergessen werden darf die Tatsache, dass Koeman und Xavi zwar dieselbe Rolle als Trainer bekleide(te)n, aber der Katalane eine ganz anderen Position einnimmt. Koeman kam als Retter in der Not, als der Verein quasi handlungsunfähig erschien. Wurde mehr oder weniger der niederländischen Nationalmannschaft entrissen. Indes kann Xavi nicht nur auf maximales Vertrauen der Vereinsführung, sondern auch auf wieder vollere Kassen verfügen. Xavis Ergebnisse waren zu Beginn schlechter, doch Koeman hatte unter anderem noch einen gewissen Lionel Messi in der Mannschaft, der zum Ende seiner Ära das ein oder andere schlechte Spiel seiner Mannschaft kaschieren konnte.

Letztendlich hat Koeman es nicht geschafft, den FC Barcelona wiederzubeleben und für ruhigeres Fahrwasser zu sorgen, aber der Niederländer, ebenfalls eine Vereinslegende, hatte seinen Anteil daran, die Weichen Richtung Erfolg zu stellen – wovon Xavi zum Teil bis heute profitiert. Koeman erkannte das Talent von Jugendspielern und verhalf unter anderem Gavi, Pedri, Alejandro Balde, Nico und Ronald Araújo, wenn auch mal mehr und mal weniger notgedrungen, zu ihren Profidebüts. Bis auf den verliehenen Nico Gonzalez (derzeit beim FC Valencia) bilden all diese Spieler heute einen wichtigen Bestandteil in Xavis Barcelona, der den Verein zurück in die Erfolgsspur führt.

Zahlen lügen nicht: der FC Barcelona spielt rekordverdächtig

Nach nunmehr 67 absolvierten Partien, zum Ende der Hinrunde in La Liga, thront der FC Barcelona auf Platz 1 und kann sich immerhin bereits “Hinrundenmeister” nennen. Xavis Barcelona hat, ohne den 3:0-Sieg am 20. Spieltag gegen Sevilla, der bereits die Rückrunde einläutete, mittlerweile drei Siege mehr als Koemans Barcelona auf dem Konto (Xavi: 42, Koeman: 39) und kann nun auch eine bessere Siegquote vorweisen (Quelle: SPORT). Koemans FC Barcelona schoss mit 138 zu 131 zwar mehr Tore (Koeman: 2,05 pro Spiel, Xavi: 1,95), allerdings: in Koemans Saison 2020/2021 konnte der Niederländer auch noch auf Lionel Messi zurückgreifen. Bekanntermaßen hat Xavi unter anderem die Defensive stabilisiert und möglicherweise zu einer der besten in ganz Europa gemacht: in 67 Spielen bekommen die Katalanen nun nur durchschnittlich 0,98 Gegentore, was ein Zehntel weniger ist als unter Koeman (Koeman: 75 Gegentore, Xavi: 66). Was Titel angeht, sind sich beide Trainer ebenbürtig: Koeman gewann 2021 die Copa del Rey (Barça gewann im Finale gegen Athletic Bilbao 4:0), Xavi sicherte sich und seiner Mannschaft die Supercopa (Barça gewann den Final-Clásico gegen Real Madrid mit 3:1).

Barça hat in La Liga, Stand Spieltag 20, unter anderem: Die meisten Punkte geholt (53), die meisten Tore geschossen (42), die wenigsten Tore kassiert (7) und dabei fünfzehnmal zu Null gespielt. Bis zum ewigen Zu-Null-Rekord (Francisco Liaño von Deportivo La Coruña spielte 1993/94 ganze 26 Mal zu Null) ist es zwar noch ein ganzes Stück, doch wenn die Katalanen so weiterspielen wie bisher, kann Atlético Madrids Gegentor-Rekord von lediglich 18 in der Saison 2015/16 gebrochen werden. Insbesondere den deutschen Nationaltorhüter Marc-André ter Stegen wird dies freuen. Dass von sieben Gegentoren in La Liga zwei durch Elfmeter zustande kamen (gegen Real Madrid und Espanyol Barcelona) und ein Gegentor ein Eigentor Koundés war (gegen Real Betis), unterstreicht noch mal, wie sehr Xavi den FC Barcelona positiv umwandelt. Und wenn die Katalanen so weiterspielen wie bisher, kann rein rechnerisch auch gut und gern die magische 100-Punkte-Marke erreicht werden, was bisher erst zweimal geschafft worden ist (Real Madrid in der Saison 2011/12 und FC Barcelona 2012/13).

Auch das Kalenderjahr 2023 kann sich bisher sehen lassen. Die Katalanen können seit dem Jahreswechsel eine makellose Bilanz aufweisen: elf Spiele, elf Siege, ein Titel.

Umfrage | Wer ist Barças bester Spieler der Hinrunde?

Umfrage | Welche Titel gewinnt der FC Barcelona diese Saison noch?

Xavis Handschrift bei Barça

In Anbetracht dieser Zahlen, welche am Ende doch nur ein Hilfsmittel bleiben und niemals ein komplettes Bild zeichnen, ist bei den Spielen der Katalanen dennoch wieder eine klare Handschrift zu erkennen. Xavi haucht dem FC Barcelona insofern neues Leben ein, als dass die Spieler wieder im Kollektiv angreifen und verteidigen: Beispielsweise in dieser Szene im Spiel gegen Real Betis ist eindrucksvoll zu sehen, wie die Katalanen nach einem Ballverlust am gegnerischen Strafraum in einen Zwei-gegen-Vier-Konter geraten und wenige Sekunden später am eigenen Strafraum doch zu neunt(!) verteidigen. Xavis Barcelona besticht nicht nur durch eine felsenfeste Abwehrkette und kollektives Pressing, sondern agiert wieder als Mannschaft, in der einer für den anderen arbeitet. Hatte man in jüngerer Vergangenheit oft Probleme mit dem Flügelspiel und fand im letzten Drittel kaum Optionen, finden Angriffe unter Xavi wahlweise über beide Flügel und erst danach klassisch durch die Mitte statt. Das Wichtigste jedoch: Die richtige Mentalität und die Gier nach Titeln sind zurück.

Die Eingewöhnungszeit ist mittlerweile vorbei. Sagte man beispielsweise noch vor einem Jahr, als der FC Barcelona kurz nach Xavis Amtsübernahme in der Tabelle bis auf Rang 2 kletterte und gestandene Ligagrößen wie Atlético Madrid, Real Madrid, Athletic Bilbao oder den FC Valencia reihenweise mit vier Toren vermöbelte: “Abwarten, das kann auch nur eine Momentaufnahme sein!”, so ist es nun, angesichts der genannten Errungenschaften, Veranschaulichungen und Zahlen, entweder längst zu spät und daher überflüssig, immer noch zu mahnen, oder man kann längst die Gewissheit aufnehmen: Xavi und Barça – das funktioniert.

Der jüngste Kniff des 43-Jährigen ist es, auf einen der zwei klassischen Flügelstürmer zu Beginn zu verzichten und stattdessen einen vierten Mittelfeldspieler aufzustellen. Damit gewinnt der FC Barcelona nicht nur seine einst gefürchtete Dominanz im Zentrum zurück, sondern der Gegner wird ob des flexiblen Positionsspiels des “falschen Außenstürmers” oftmals vor große Probleme gestellt. Barçawelt stellte dahingehend nach dem gewonnenen Supercopa-Clásico fest: Xavis Masterplan ging voll auf. Ebenso gewannen die Katalanen die Partie an Spieltag 19 gegen Real Betis, das von diesem Positionsspiel schlicht überfordert war.

Der nächste Gradmesser auf internationalem Parkett heißt Manchester United, nach dem Abgang von Superstar Cristiano Ronaldo wiedererstarkt. Bis dahin gilt es, ein Manko zu beseitigen, das sich in die neugewonnene Stabilität eingeschlichen hat. Der größte Kritikpunkt an Xavis Barça 2022/23 ist, dass die Mannschaft phasenweise etwas zu sicherheitsorientiert spielt und nach erzielter Führung nicht etwa auf das zweite Tor geht, sondern mehr mit Absicherung beschäftigt ist, wodurch dem Gegner zwangsläufig mehr der Ball überlassen wird. Das lässt Kontrahenten ungewollt erstarken, wodurch man wiederum in den Schlussphasen mancher Spiele noch einmal um den Sieg bangen musste. So gewannen die Katalanen im Januar alle drei Ligaspiele und das Copa-Viertelfinale jeweils nur hauchdünn mit 1:0. Auch eine Facette des “Xavi-Balls”: Minimalismus. Doch wer gewinnt, hat Recht, und wenn die zweite Saisonhälfte auch nur ähnlich erfolgreich verläuft, wird man Xavi und den FC Barcelona zu weiteren Titeln beglückwünschen können.